Die Gemeinschaft

Dokumente der geistigen Weltwende



Vorbemerkung

Hier sind Zeugnisse von Menschen gesammelt, die in der Änderung der Welt ihr Lebensziel sahen. Da sind Verzweifelte; gütige Skeptiker; Frondeure – die alle in ihrer Gesellschaft allein standen, sich gegen ihre Gesellschaft wandten und schliesslich ihre Rebellion in andere Richtungen leiten mussten, als es die der direkten Aktion sind; die Schöpfer unserer kritischen Einstellung. – Dann die Aufrührer des Geistes, die den Bewusstseinszustand der Welt umbrachen; seelische Vorbereiter der Wirklichkeitskrise unserer Tage; die Dichter, Maler, Musiker; die Schöpfer neuer Gefühlsgebilde. – Endlich die sozialen Revolutionäre, die Denker der Volksbewegung, Gestalter und Historiker der Massenaktionen, die Sprecher des Proletariats: Die Schöpfer der neuen sozialistischen Weltkultur, die aus dem langen Ablaufe der Weltrevolution hervorgehen wird, und die so jenseits der bürgerlichen Welt unserer Tage steht, wie die heutige bürgerliche Welt selbst durch die Völkerwanderung von der Antike geschieden ist. Wir stehen im allerersten Beginn. Der Schritt arbeitet sich noch mühevoll durch die gestürzte Trümmermasse der Vergangenheit. Aber das Auge des neuen Menschen blickt unendlich anders als das der bürgerlichen Einstellung. Ziel des Schreitens, Horizont des Blickens: die Gestaltung der produktiven Menschengemeinschaft über alle Länder hin. Diesem Ziel eines wirklich schöpferischen Lebens aus Erde und Mensch, das unserem Dasein in unendlicher Einfachheit Sinn gibt, ist nicht mehr auszuweichen; keine Konjunktur kann es mehr umbiegen, kein militärischer Erfolg oder Misserfolg mehr aufhalten, keine Reaktion mehr morden. Das Erdballbewusstsein vom Gemeinschafts-Sollen des Menschen ist für den Jahrtausend-Weltprozess, in dessen Anfang wir stehen, nicht mehr zu vernichten. Es geht um die Arbeit, die einen Weltgemeinschafts-Sinn hat. Und diese Geisteswende ungeheuerster ethischer Erdball-Entscheidung für kommende Generationen fand ihren ersten Ausdruck durch die Realität in den Novembertagen von 1917 und 1918, da die menschliche Sprache die Ideen „Sowjet“ und „Räte“ als neue, mächtige Selbstverständlichkeiten über die Länder warf. Der Sammlung dieser Dokumente einer geistigen Weltwende stellte Gustav Kiepenheuer die Grenzen eines Jahrbuches, das für seinen Verlag geplant war, zur Verfügung.

Nachwort

(...) Was ist der Inhalt der zugrundegehenden Kultur? Was verlieren wir beim Verlust dieser Kultur des Bürgertums, Kultur des Kapitalismus? Es ist eine Kultur nicht der Schöpfung, sondern der Wiederholung. Der Besitz, das materielle Leben, ist eine ungeheuere Angelegenheit von Addition und Subtraktion, die Fülle des Lebens ist nur Fülle des Besitzers; wird die Masse des Besitzes grösser oder kleiner, der Besitzer bleibt; die Starre, die Leichenstarre dieser Zivilisation bleibt.

Das geistige und das seelische Leben, das einfache lebenswerte Leben des Menschen ist leer. Leer von Ideen, denn die Ideen sind ersetzt durch die Tatsachen des gegebenen Besitzes; leer von Willensimpulsen, denn an ihre Stelle tritt der mächtige Zwang der Besitzwirtschaft, und an Stelle des menschlichen Antriebs um der Menschlichkeit willen tritt als Ersazt die Konkurrenz um der Gesellschaft willen.

Die Wissenschaft dient dem Besitz: Ein guter Chemiker oder Physiker wird von dieser Kultur ein Forscher genannt - nicht, der gut ist und dessen Ergebnisse Lebenseinsicht und Lebensweg der Menschheit klären und vereinfachen - sondern der Hilfsmittel findet, um den Besitzerkampf erfolgreicher zu machen.

Der Dichter gilt als gut, wenn er die Empfindungen dieser Gesellschaft darstellt. Der Musiker, wenn er ihre Gefühle erregt und betäubt. Der Maler, wenn er den Lebensraum dieser Gesellschaft bejaht, schmückt, oder aus ihr persönliche Konstruktionen zum wissenden Genuss ihrer hochbezahlenden Kapitalsherrscher herausholt. Der Denker gilt als gross, der ihre Notwendigkeit und die aller ihrer Diener erweist. Sie alle leben auf dem Riesenberge des Kapitalismus, und diese Kultur, um deren Verlust man so zittert, ist eine Parasitenkultur. Sie ist leer. Tragt ihren Berg ab, und von ihren Werken bleiben die hohlen Gehäuse, die in sich zusammensinken.

Der Sinn des Kampfes um die Zukunft ist Schöpfung. Schöpfung um des Schöpfers willen, des Menschen. Nicht der Besitz und sein Betrieb ist mehr die Mitte der Welt, sondern der Mensch. (...)

Aus dem Kapitel „Blickeinstellung der neuen Kultur“:
Ferruccio Busoni: Neuer Anfang

Plötzlich, eines Tages, schien es mir klar geworden: dass die Entfaltung der Tonkunst an unsern Musikinstrumenten scheitert. Die Entfaltung des Komponisten an dem Studium der Partituren. Wenn „Schaffen“ wie ich es definierte, ein „Formen aus dem Nichts“ bedeuten soll (und es kann nichts anderes bedeuten) – wenn Musik – (dieses habe ich ebenfalls ausgesprochen) – zur „Originalität“, nämlich zu ihrem eigenen reinen Wesen zurückstreben soll; (ein „Zurück“, das das eigentliche „Vorwärts“ sein muss) – wenn sie Konventionen und Formeln wie ein verbrauchtes Gewand ablegen und in schöner Nacktheit prangen soll; - diesem Drange stehen die musikalischen Werkzeuge zunächst im Wege. Die Instrumente sind an ihren Umfang, ihre Klangart und ihre Ausführungsmöglichkeiten fest gekettet und ihre hundert Ketten müssen den Schaffen-Wollenden mitfesseln.

Vergeblich wird jeder freie Flugversuch des Komponisten sein; in den allerneuesten Partituren und noch in solchen der nächsten Zukunft werden wir immer wieder auf die Eigentümlichkeiten der Klarinetten, Posaunen und Geigen stossen; die eben nicht anders sich gebärden können, als er in ihrer Beschränkung liegt (und das ist das siegreiche in Beethoven, dass er von allen „modernen“ Tondichtern, am wenigsten den Forderungen der Instrumente nachgab. Hingegen ist es nicht zu leugnen, dass Wagner einen „Posaunensatz“ geprägt hat, der – seit ihm – in den Partituren ständige Wohnung nahm!), dazu gesellt sich die Manieriertheit der Instrumentalisten in der Behandlung ihres Instrumentes; der ébrierende Überschwang des Violoncello, der zögernde Ansatz des Hornes, die befangene Kurzatmigkeit der Oboe, die prahlhafte Geläufigkeit der Klarinette; derart, dass in einem neuen und selbständigeren Werke notgedrungen immer wieder dasselbe Klangbild sich zusammenformt und dass der unabhängige Komponist in all dieses Unabänderliche hinein-und hinabgezogen wird.

Vielleicht, dass noch nicht alle Möglichkeiten innerhalb dieser Grenzen ausgebeutet werden, - die polyphone Harmonik dürfte noch manches Klang-Phänomenon erzeugen können – aber die Erschöpftheit wartet sicher am Ende einer Bahn, deren längste Strecke bereits zurückgelegt ist. – Wohin wenden wir dann unsern Blick, nach welcher Richtung führt der nächste Schritt? Ich meine zum abstrakten Klange, zur hinderlosen Technik, zur tonlichen Unabgegrenztheit … Dahin müssen alle Bemühungen zielen, dass ein neuer Anfang jungfräulich erstehe.

Der zum Schaffen Geborene wird zuerst die negative, die verantwortlich grosse Aufgabe haben, von allem gelernten, gehörten und Scheinbar-Musikalischen sich zu befreien; nun, nach der vollendeten Räumung, eine inbrünstig, asketische Gesammeltheit in sich zu beschwören, die ihn befähigt, den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen. Diesen Giotto eines musikalischen Rinascimento wird die Weihe der legendarischen Persönlichkeit krönen. Der ersten Offenbarung wird sodann eine Epoche religiöser Musikgeschäftigkeit folgen, daran kein Zunftwesen ein Teil haben kann, insofern, als die Berufenen und Eingeweihten unverkennbar, und nur diese die Vollbringenden sein werden. An diesem Zeitpunkt leuchtet die vollste Blüte, vielleicht die erste in der Musikgeschichte der Menschheit. Ich sehe auch, wie die Dekadenz beginnt und die reinen Begriffe sich verwirren und wie der Orden entweiht wird …

Es ist das Schicksal der Späteren, und wir – heute – sind ihnen ähnlich wie die Kindheit dem Greisenalter.

A. Efross: Marc Chagall

Der Maler Marc Chagall

I.

Er tritt ins Zimmer: so treten Menschen der Tat auf, sicher und scharf den Raum überwindend, mit festem Schritt, der von Bewusstsein zeugt, die Erde sei Erde und nur Erde. Aber nun: bei irgendeinem Schritt hat sein Körper gewankt und ist komisch zusammengeknickt, gleichwie im Marionettentheater Pierrot zusammenbrach, tödlich vom Verrat gestochen; und leicht zur Seite gebeugt, geborsten, mit einer Miene, die für uns unbekannter Schuld und Verzeihung bittet, tritt Chagall heran und drückt einem die Hand, - und setzt sich schräg, als würde er fallen, in den Sessel.

Chagall hat das gute Gesicht eines jungen Fauns, aber im Gespräch verfliegt die gutmütige Weichheit wie eine Maske und dann denken wir: Chagalls Mundwinkel sind wie Pfeile zu scharf und das Gebiss, wie das eines Tieres, zu schneidespitz und die graublaue Milde der Augen flackert zu oft in einer Wut seltsamer Blitze auf, hellsichtiger und blinder zugleich, die in dem Anderen den Gedanken aufkommen lassen, dass er, der Andere wahrscheinlich auf irgendeine phantastische Art im Spiegel der Chagallschen Augen wiederspiegelt und sich vielleicht später einmal wiederfindet in einem der grünen, blauen, roten, fliegenden, zerzausten, zerkrümmten, verbogenen Menschen, - auf den künftigen Bildern Chagalls.

Und wenn im Gespräch Stunden verrinnen, und in der Unterhaltung über liebe Alltäglichkeit von der Arbeit, von der Frau, dem Kinde Chagall plötzlich in einem hellseherischen Satz aufbraust, wie etwa: " ... wir sprechen nur wie vor Gott, unser Weg ist unfehlbar, denn dies ist der Weg Gottes ..." o, dann wundern wir uns nicht mehr, wir begreifen sogar Chagall, wir sehen selbst mit welch festen, wenn auch verstandesgemäss und fassbaren Banden diese phantasmagorischen Aussprüche Chagalls mit seinen Erzählungen von der liebgewonnenen Lebensalltäglichkeit verknüpft sind, dass sie ihn erleuchten und erhellen, indem sie hinter dem Vorderplan seiner Worte zweite, dritte, vierte, ferne Pläne öffnen, - Seelenpläne, - und dass sie bei Chagall ebenso unvermeidlich und seinem Blute ebenso eigen sind, wie diese unerwartet grauen Strähnen da, die das hellockige Haar des kaum dreissigjährigen Künstlers durchfurchen.

II.

Wie Chagall selbst, - so schwierig ist seine Kunst: um ihn liebzugewinnen, muss man sich ihm nähern, und um nahezukommen, muss man hindurch durch das langsame und beharrliche Suchen des Eindringens durch seine harte Hülle. Denn der erste Blick flattert hilflos in den Widersprüchen und Schauerwundern der Chagallschen Kunst. Dass Chagall von höchster Begabung ist, - dies sieht man sofort; warum aber treibt er alle diese Absonderlichkeiten? Warum ist dieser herrlich gemalte alte Jude - grün? Und der andere hat rote und grüne Hände? Dem dritten auf dem Kopfe steht ein genau solcher kleiner Judenjunge, nur zur anderen Seite gekehrt? Bei dem Pferde ist im Bauch das ungeborene Füllen zu sehen und unter den Hufen ragen zwei Menschengestalten? Dem alten Weib ist der Kopf weggeflogen und saust aufwärts, während der kopflose Rumpf sich stürmisch von der Höhe auf eine Kuh herablässt, die auf einem Dach sitzt? Und das Mädchen mit dem Strauss - an ihren Lippen saugt ein Jüngling, der über ihren Kopf hinweg in der Luft hängt, wie eine hochgeschleuderte Katze? Und der Ochse hat einen Männerrock und Menschenarme, und er sitzt gedankenvoll auf die Ellenbogen gestützt, zwischen zwei, von seinen Schultern herabhängenden, nackten Beinen, die scheinbar zu jenem Weiberkopf gehören, der - den Nacken umgekehrt - ihm in den Mund spuckt?

Und der Mensch, der zum Fenster hinaus auf Paris schaut, hat einen Januskopf - ein Gesicht vorne und ein Gesicht hinten - und eine Katze mit Menschenanlitz blickt vom Fensterbrett auf zwei Menschen, die - die Schädel gegeneinander - neben dem Eiffelturm liegen und so gross sind, wie die schiefgewordenen vielstöckigen Häuser ringsum? Was ist das - Krankeit oder Verschmitztheit - jene besondere ästhetische Verschmitztheit der Jugend, "Rapin"-Stücke, mit denen so viele grosse Künstler ihre künstlerische Laufbahn begannen? Ist vielleicht alles, was Chagall heute braucht: Nur Verzeihung seiner jetzigen Frechheiten, der grossen Zukunft zuliebe? Oder gibt es noch irgendeinen dritten Standpunkt, der eine neue Aussicht auf Chagall eröffnet, wo sein jetziges Schaffen schon nicht mehr Wahnsinn und nicht Bluff ist, sondern künstlerisch gerechtfertigt und psychologisch überzeugend ist in seinen Lebensungereimtheiten, und wo wir Zuschauer, die "zu Chagall gekommen sind" die Fragen der nicht suchenden Menschen - "wozu macht er das?" mit ebensogrosser Verwunderung aufnehmen werden, mit der Chagall selbst auf die Ausstellungsbesucher blickt, die vor seinen Bildern ihre "Wozu" und "Weshalb" ausschütten? - Ja, so ist es.

III.

Die Annäherung an Chagall ist dadurch schwierig, dass man seine Widersprüche überwinden, sie in Synthese zu bringen verstehen muss, in den nach den verschiedenen Seiten auseinanderstrebenden Elementen seiner Kunst den einheitlichen Stamm und die allgemeinrichtende Kraft auffinden, die für die ganze Vielheit der bunten Teile bestimmend ist. Chagall ist Genre-Maler, aber Chagall ist auch Visionär; Chagall ist Erzähler, aber Chagall ist auch Philosoph; russischer Jude und Chassid, aber auch Schulgänger der französischen Modernisten; aber schliesslich auch ein gewisser kosmopolitischer Phantast, der als ein Hexerich auf dem Besenstiel über die Erdkugel dahinsaust und mit stürmischen Flug hinter sich her eine Unmenge von verschiedenen Teilen einer Unmenge von verschiedenen Existenzen mitreisst, die auf seine Leinwände hinabschwärmen, wenn die Stunden des Nachdenkens und der Schöpfung kommen, und wenn sich plastisch zu Gestalten und Farben das fliessende und sturmhafte Element der Chagallschen Visionen wandelt.

Wäre Chagall bloss ein Visionär - es wäre nicht schwer, ihn zu erfassen, wie es unschwer war, das Visionäre eines Tschurlanis zu erfassen. Es würde selbst noch leicht sein, wäre Chagall ein reiner Genre-Maler, auch würde er den linksstehendsten und extremsten unter der Zahl jener Künstler angehören, die gegenwärtig die Formen der neuen Genremalerei schaffen: wir sind bereits genügend durch die verschiedenen "Deformationen" hindurch gegangen, um vor ihnen nicht mehr zu erschrecken und ihnen vielleicht sogar Reiz abzugewinnen.

Schliesslich wäre es ein leichtes gewesen, sich von der Möglichkeit treiben zu lassen, die dunkle und komplizierte Allegorie zu enträtseln, wenn die kopflosen und grünen Menschen Chagalls blosse Allegorien wären, die man in eine einfache und verständliche Legende umwandeln könnte, wie die Ungeheuer, Schreckgestalten und Missgeburten auf den Stichen der Goya'schen Zyklen.

Aber Chagall hat weder das eine, noch das andere, oder das dritte. Seine Visionärhaftigkeit lebt ganz und gar in den Grenzen des einfachsten Alttags, und sein Alltag ist ganz visionär. In den Menschen und Gegenständen der Alltäglichkeit schimmert bei ihm die Natur der Gespenster hindurch, aber diese Chagallschen Gespenster sind keineswegs Schatten, die jeder Festigkeit, Räumlichkeit und Färbung bar sind, auf die man ebenso vergeblich hauen und stechen könnte, wie man die Luft hauen und stechen kann.

Dieses gespenstische Genre Chagalls besitzt die ganze Greifbarkeit und Schwere der gewöhnlichen Dinge und Körper. Und wenn es dennoch von einem gewissen Gesetz beherrscht wird, das es in Stücke reisst, das Menschen, Tiere und Dinge in der Luft auseinanderschmeisst und die ganze Logik und Vernunft der irdischen Proportionen und Wechselbeziehungen durcheinander bringt, so ist daran weniger das arme Gesetz der Allegorie und das gemeine Gesetz des Rätselratens schuld; wir haben es nicht mit einer logischen Spielerei zu tun, sondern mit einem echten, bedingungslosen Gebilde von ungeheuerer innerer Sättigung.

IV.

Chagall erfassen kann man nur auf dem Wege der Einfühlung, aber nicht auf dem des Verstehens. Das Gesetz der Deformation, das der Produktion Chagalls ein so seltsames Gepräge verleiht, dasselbe Gesetz, von dem die Ungereimtheiten und Absoderlichkeiten der Kindermärchen, der Hirn-und Schreckgespinnste getragen werden, das ist dasselbe, von dem die phantasmagorische Welt der jüdischen Nationalmystik geschaffen wird, die in der grossen Bewegung des Chassidismus den Versuch lieferte, den bettelarmen und qualvollen Alltag der kleinstädtschen Existenz wundersam umzugestalten.

Eine beliebte und hauptsächliche Verknüpfung der Geschehnisse in den Kindererzählungen ist das Wort "plötzlich", und sie ist keineswegs mechanisch oder äusserlich, - sonst hätte sia ja die reinste Wahrhaftigkeit der Kinderphantasie abgestreift; im Gegenteil, das Wort "plötzlich" drückt das eigentliche Wesen und die intime Natur jener Elementargewalt unbeschränkter Möglichkeiten aus, von denen die Welt des Kindes erfüllt ist; mit dem Wort "plötzlich" wird dem Hörer nur angekündigt, dass diese allmächtige Elementargewalt allsobald mit einer ihrer Launen hervorbrechen werde. Übertragen wird dieses "plötzlich" in die Sprache der Erwachsenen, und wir bekommen das "Wunder". Aber nicht "das Wunder" im Sinne einer ungewöhnlichen und seltensten Ausnhame, die die Gesetze der Wesenheit durchbricht, sondern "das Wunder" als übliches Element der Alltäglichkeit, "das Wunder", das selbst die Möglichkeit irgendeines Lebens "ausserhalb des Wunders" ablehnt und darauf besteht, dass "alles möglich ist und alles vorkommt". Das ist eben jene Weltempfindung, die in der neueren Geschichte des Judentums die Wundertäter-Praxis des Chassidismus geschaffen hat.

Aus Chagall spricht ein solcher innerer Glaube, dass "alles vorkommt", deshalb kann man in das Innere seiner Kunst eindringen, ohne an der Schale zu zerbrechen, nur, indem man in sich die Reste der Kinderträume wachruft und in der Seele jene vergessenen Empfindungen auferstehen lässt, da in uns die Furcht vor dem dunklen Zimmer lebendig war, da das Bewusstsein lebte, durch die öden und schwarzen Wände hindurch könnten die haarigen Arme irgendeines Ungeheuers hinausragen und einen davonschleppen, und der alte Stuhl könnte plötzlich die Zähne fletschen und hinter uns her jagen.

Welcher Unterschied besteht zwischen den Forderungen, die die Phantastik E.T.A. Hoffmanns und die Phantastik des Barons Münchhausen an den Leser stellt? Der etwa, dass Hoffmann Glaube an seine Fabeln heischt, Münchhausen aber Unglauben? Sollte dies nicht die Grundlage sein, auf der sie ihre Wirkungen aufbauen? Chagall braucht einen ebenso gläubigen Zuschauer wie Hoffmann; sein Beschauer muss sich ebenso der Ungewöhnlichkeit seiner Gestalten und Erscheinungen hingeben, sich genau so ihrer besonderen Logik anvertrauen können, wie er sich dem Strome der Hoffmannschen Phantasiewelt hingeben kann. Wenn ein einfältiger Betrachter an Chagall mit seinem naturalistischen Kriterium herantritt und empört auf die Chagallschen "Ungereimtheiten" hinweist, dann kann der Künstler deshalb nur das eine tun: bekümmert staunen; er begreift wahrhaft nichts von der Empörung seines Zuschauers, denn seine Kunst wird mit anderem Mass gemessen, als ihr eigen ist.

Ein Grundsatz in der Erkenntnis des künstlerischen Schaffens ist, dass die Kunst jedes einzelnen Meisters ein besonderes Land mit seinen besonderen Gesetzen ist; den Künstler verstehen heisst in diesem Sinne sich diesen Gesetzen unterwerfen und zu der äusseren Offenbarung der Produktion, zu den Gemälden und Skulpturen von innen heraus, vom schöpferischen Willen des Künstlers her zu kommen. Und so eröffnet sich die Kunst Chagalls ebenso klar, fast schematisch, wenn man ihre eigene innere Logik verfolgt, aber so ist sie auch unüberwindbar chaotisch und hoffnungslos sinnlos, wenn man von aussen an sie herantritt und sie mit dem gesetzlosen Massstab der realistischen Genre-Malerei misst.

Aus dem Russischen übertragen von Frida Ichak.

Aus dem Kapitel „Weltbeginn“:

Lunatscharski, der Volkskommissar der russischen Sowjetrepublik, ist eine der stärksten geistigen Größen, die die Welt heute lebend hat. Dieser Mann besitzt die Arbeitskraft des Gelehrten, den schnellen, weite Schlüsse ziehenden Blick des Politikers und das Herz des wirklichen Sozialisten. Sein Zusammenhang mit der revolutionären Kunst der heutigen Zeit, seine Fähigkeit, religiöse Probleme darzustellen, erhoben ihn seit einem Jahrzehnt wie einen Adler über die Schreibtisch-Wackelköpfe und die naiven Parteidümmlinge, die beispielsweise in Deutschland der Sozialdemokratie ihre Arbeiten auf ähnlichen Gebieten vorsetzen. Neben Lunatscharski, der schon vor Jahren in Stockholm einen Plechanow leicht triumphierend niederdebattierte, kann man etwa Kautskys Untersuchungen religiöser Fragen nur mit Gelächter lesen - gar nicht zu reden von Dingen der Kunst, die bis heute in Deutschland von verstockt Ahnungslosen oder von notorischen kapitalistischen Kriegsschiebern unter Parteiflagge behandelt werden.

Die große Kraft Lunatscharskis dient der russischen Räterepublik bei der Aufrichtung eines ungeheuren Kulturwerkes. Lunatscharski begründete „Proletkult“ (abgekürzter Name des Instituts für proletarische Kultur), eine Einrichtung, die nicht nur die Werke der großen Schriftsteller und Denker der Welt dem russischen Volke in Millionen von Exemplaren umsonst zugänglich macht, sondern die auch die Fähigkeiten dieses neuen Menschengeschlechtes von morgen, des Proletariats, in Dichtung, Musik, bildender Kunst überall bis an die Wurzel aufspürt und ermutigt. Eine Reihe von Zeitschriften, die Lunatscharski leitet oder angeregt hat, helfen heute schon, unter den unglaublich schwierigen Zuständen des immer noch von außen feindlich bedrohten Rußland, dem geistigen, schöpferischen Leben des Proletariats die Existenz zu ermöglichen.

Proletkult ist der Beginn eines schöpferischen Lebens der Gemeinschaft, in der die “geistige Arbeit“ nicht mehr der Schutzmantel von konjunkturgierigen Geschäftsbürgern mit wissenschaftlicher oder literarischer Spezialität sein wird, sondern das Wunder der Schöpfung, die der einzelne Mensch in seiner Zugehörigkeit zur wahren sozialistischen Gemeinschaft freudig der Welt schenkt. R.

Anatolij Lunatscharskij: Proletarische Kultur

(…) Nur in einem Falle kann der Intellektuelle eine aussergewöhnliche Macht erwerben, und zwar, wenn er sich auf die sich aufbäumenden unteren Klassen stützt – aber diese Erscheinung ist nur dann möglich, wenn zwischen einem solchen Intellektuellen und den Massen eine tiefe geistige Verwandtschaft besteht, sonst ist nur die Demagogie – eine negative und an sich unbedeutende Erscheinung möglich. (…) Aber gerade der Umstand, dass das Proletariat die Kehrseite der kapitalistischen Medaille ist, gerade seine Gebundenheit an die Industriestadt, den Weltmarkt und die wissenschaftliche Technik, gerade sein ursprünglich vollkommen unwillkürliches Zusammenhalten und sein Diszipliniertheit mussten zur Triebkraft seiner weiteren ungeheuren Entfaltung werden. Wie auch seine Vorgänger, die emporgestiegenen Klassen, beginnt das Proletariat mit seinem Wachstum, mit der Verstärkung seines Einflusses immer mehr und mehr vielseitige Kulturansprüche und immer mehr ein vielgestaltiges Schaffen zu entwickeln. Schon jetzt im Kellergeschoss des kapitalistischen Palastes beginnt die Arbeiterklasse ihre Kultur zu schmieden: vorerst die Kultur als Schwert, die Kultur des Kampfes gegen die Unterdrücker und dann auch die Kultur als Traum, die Kultur – als das Ziel ihrer Bestrebungen, ihr Klassenideal der Wahrheit und der Schönheit.

Die proletarische Kultur, die sich vorläufig hauptsächlich auf dem politischen und ökonomischen Gebiete in Formen des Kampfes und der Organisation geäussert hat, steckt noch in den Kinderschuhen. Aber das, was Marx über die ersten Bücher des Arbeiters Weitling gesagt hat, bezieht sich auch auf die proletarische Kultur; zwar sind es Kinderschuhe, aber wenn man sie mit den ausgetretenen Stiefeln der altersschwachen Bourgeoisie vergleicht, sieht man, dass diese Schuhe einem Riesenkinde gehören. Es wäre jedoch eine Lüge zu behaupten, dass das volle Erfassen der Frage nach dem Verhältnis der Klassenkultur zur allgemeinmenschlichen Kultur unter den Arbeitern selbst und ihren Freunden etwas Übliches sei. Im Gegenteil, wir finden in dieser Klasse, die sich auf ihrem Marsche zu einer langen Prozession ausgedehnt hat, wo die Entfernung zwischen der Vorhut und der Nachhut ungeheuer ist, eine Unmenge der wildesten Vorstellungen. Ich leugne nicht, dass er gar nicht so schwer ist, unter uns Sozialisten den einen oder den andern nicht immer im formalen Sinne ungebildeten Jüngling zu finden, der ihnen keck zurufen wird: „Zum Teufel mit der bürgerlichen Kultur!“

Und dabei wird man sogleich finden, dass diese bestimmten und entschlossenen Feinde der Vergangenheit in zwei Typen zerfallen. Unter ihnen gibt es Asketen, Puritaner – nach der Terminologie von Heine – ein jüdischer Typus: sie lehnen für die absehbare Zukunft die Notwendigkeit von „Luxus“ einfach ab. Die ernste Arbeiterklasse wird besonders in der Kampfperiode, sagen sie, sich mit dem Klimbim der Kunst nicht abgeben oder die Zeit für den Erwerb von Kenntnissen, die für das Leben unmittelbar nicht verwendbar sind, nicht vergeuden. Der typischste Vertreter dieser Richtung in der Literatur, der Syndikalist Georges Sorel, stellt sich sogar die kommende sozialistische Ordnung in nüchtern praktischen Umrissen vor, die des langweiligsten Quäkers würdig wären.

Man trifft jedoch auch den „hellenischen“ Typus, nach der Terminologie desselben Heine an: einen Typus, der vom Sozialismus den grossen Anbruch der Lebensfreude erwartet und bereit ist, die üppigsten und heidnischen Programme der kühnsten Träumer eines prächtigen Saint-Simonismus zu unterzeichnen. Aber sehr oft sind diese Sozialisten geneigt, auf das Bestimmteste zu erklären, dass der Sozialismus binnen dreier Tage den alten Tempel zerstören und einen vollständig neuen aufbauen würde.

(…) Aber daraus, dass zwischen der sozialistischen Kultur und der proletarischen Kultur sich notwendigerweise viele tiefe Unterschiede herausstellen müssen, darf man nicht folgern, dass zwischen ihnen keine tiefe Verwandtschaft bestehe. Der Kampf geht doch gerade um das Ideal der Kultur der Brüderlichkeit und der vollständigen Freiheit, gerade um das Ideal des Sieges über den Individualismus, der den Menschen zum Krüppel macht, um das Aufblühen des kollektiven Massenlebens nicht auf Grundlage des Zwanges und des Herdenmässigen, wie es zuweilen in der Vergangenheit der Fall war, sondern auf Grundlage einer vollständig neuen organischen, oder besser einer überorganischen, freien und natürlichen Verschmelzung der Persönlichkeiten zu überpersönlichen Einheiten. Nicht nur, dass diese Züge des Ideals im Eifer des Kampfes bestimmte Formen der Mitbetätigung vorschreiben, sie wachsen vielmehr selbst aus der besonderen Stellung des Proletariats in der kapitalistischen Ordnung heraus, die das Proletariat zu der organisiertesten und innerlich einheitlichsten Klasse gemacht hat.

(…) Die ethische und die ästhetische Erziehung der jungen Generation des Proletariats im Geiste des sozialistischen Ideals ist eine absolute Notwendigkeit. Tausendmal recht hat Rosa Luxenburg, wenn sie sagt, dass ohne das klare Verständnis für diese Aufgabe der proletarischen Selbsterziehung wir uns schwerlich vom Fleck rühren werden. (…)