Der Mensch in der Mitte



Vorbemerkungen



Der Ruf: Unbedingtheit! darf nicht länger Legende bleiben.

Der Grundplan allen öffentlichen Ausdrucks sei Willenshingabe. Ausgangspunkt ist: Das Leben im Unbedingten. Ziel ist: Das Leben in Unmittelbarkeit. Weg ist: Das Leben in Intensität. - Und die Erfahrung kann nur das Material sein, in dem wir arbeiten; die ewige Besonderheit des Lebens; die bloße Variation auf das Thema vom Geiste.

Jedes gesprochene Wort fällt in der Welt als ein Keim nieder, der Tatsachen zeugt: Jedes gesprochene Wort ist ein Vorwort zu den Handlungen der Menschen, und dafür ist der Sprecher verantwortlich.

Es kommt darauf an, immer im Willen zu stehen, des göttlichen Plans eingedenk zu sein, und die Tatsachen zu schaffen. Nicht: Ereignisse zu antizipieren. Sondern: Vorbild für die Ereignisse zu sein.

Das Vorbild für die Ereignisse ist der Mensch. Der Mensch ist die Mitte der Welt. Um ihn, seinen Händen heiß entzischend von neugewonnener Gestalt, rast seine Schöpfung, die Welt der Ereignisse; stets bereit, wieder wirbelndes Chaos zu werden und den eigenen Schöpfer zu ersticken. Der Mensch die Mitte der Welt. Nicht mehr, nicht weniger. Aber das ist unendlich viel. Denn hier liegt der einzige Fall im Leben, wo höchste Vollzogenheit der Tatsachen und höchste Forderung für die Ewigkeit: sich treffen.

Der Mensch ist die Mitte der Welt - er sei die Mitte der Welt!

Die stärkste Forderung des Menschen heißt: DER MENSCH IN DER MITTE

Das ist der Ruf nach größtem Recht. Nach größter Freiheit. Nach größter Unmittelbarkeit. Nach größter Menschlichkeitsnähe. Nach größter Liebe.

Jede strenge und wirklich absolute Überzeugung äußert sich in Widersprüchen. Die Tatsache eines Widerspruchs zweier Stellen zeigt, daß man beide Male recht hatte. Soweit "Recht haben" überhaupt noch Sinn hat; es hat aber keinen. Die Tatsache des Widerspruchs zeigt nämlich, daß an beiden Stellen Ideenschöpfungen entstanden, die, wie alle Schöpfungen, geistigen Raum einnehmen und einander räumlich jede an ihrem Platze ausschließen: also beide erst in einer höheren Einheit Platz haben.

Widersprüche sind dazu da, um ihre gemeinsame höhere Einheit zu zeugen, innerhalb der sie vollkommen lebendige Tatsachen sind. Je reiner man eine Idee verleiblicht, um so stärker fordert sie, nicht allein gelassen zu werden.

Die Kameradschaft der Ideen ist nicht ein Widerspiel des Lebens, sondern ein Vorspiel des Lebens. Mit der höheren Einheit der Ideen beginnt das Schöpfertum des Geistes; in eine Erdball-Einheit der Völker mündet die Verwirklichung.

Zuletzt liegt es in unserer Hand, die Erdkugel aufzuteilen, nicht mehr nach Nationalitäten sondern nach Idealitäten.

Jeder Mensch auf der Erde zu unseren Lebzeiten hat einmal in einer wachen und energischen Sekunde an diese Schöpfungspläne gerührt. Nur die große Schlafsucht der Welt gebiert dann jene Konvention von Böswilligkeit, die ebenso mit gewaltsam herbeigewünschtem Vergessen wie mit Füsilladen die Exekutive des Geistes zum Verschwinden bringen möchte.

Diese Weltträgheit muß immer wieder durchbrochen werden. Dazu sind die Geistigen da. Es ist gleich, wer von ihnen das Wort ergreift. Nur dies gilt: Der Welt, die mit Millionen von einrauschenden Sonderklängen und nachtleuchtenden Sonderfarben uns als ihr Objekt aufschlucken will, keine Eigenexistenz zuzubilligen. Sondern, umgekehrt, an ihr den göttlichen Schöpfungsplan zu gestalten; mit ihr den Wert durchzusetzen, die Heiligung des Lebens.

Zum erstenmal heißt Welt-Fremdheit nicht mehr: Idiotie, sondern: höchste Bewußheit. Nämlich: Platz auf einem der Welt überlegenen Standpunkt. Weltfremdheit heißt aber auch nicht mehr Weltferne, sondern äußerste Weltnähe; nämlich die Nähe des Schöpfers, des Menschen, zu seiner Schöpfung, der Welt.

Nach allem bleibt uns nichts übrig als die äußerste Strenge. Dem träg Verharrenden (nur seinen Augen spiegelt das Chaos seiner Umwelt vor, er stürze in aufregenden Abenteuern durch die Welt - wie jene gemalten Wandelpanoramen, die im vorgetäuschten Eisenbahnwagen die Illusion des Reisens erregen), ihm müssen die selbstverständlichen Voraussetzungen des Lebens im Geiste als fürchterliche Askese erscheinen. Aber das hat nichts zu sagen. Wer nur sanft den Finger hebt und auf die Wunder der Weltschöpfung aus dem Geiste zeigt, der gilt schon als schrecklicher Mahner.

Es ist aber besser, den Ruf der Unerträglichkeit auf sich zu nehmen, als zu dulden, daß die Menschenerde von dem dichten, in grüner Pflanzlichkeit treibenden Urwalde des Vergessens ganz umschlungen werde, in dem nur schattenhaft letzte Fetzen von Mißverständnissen aus einer Atmosphäre von Sumpfgasen hochschwirren, wie lichtgestäubte, willenlos sterbende Riesenschmetterlinge.

Täglich dröhnt vor uns das Jüngste Gericht auf. Täglich müssen wir uns dem Gerichtsspruch des Absoluten stellen. Einst war diese Gewissensstunde der Menschheit fürchterlichste Drohung und Henkersangst. Heut ist sie die letzte, die einzige Rettung. Trostreichste Rettung ist es, daß wir unsere grausamsten Henker hinter uns lassen, die Ausflüchte, die Zweideutigkeiten, die Versteckspiele.

Das Jüngste Gericht brüllt hinaus zur Welt mit allen Gigantenchören sternzitternder Wunderposaunen den schrillend hellen Schrei: Entscheidung!

Vor unsern Herzen ist kein Zweifel mehr möglich. Die Welt ist Gut oder Böse. Recht oder Unrecht. Liebe oder Gewalt. Freiheit oder Sklaverei. Alles was darüber, darunter, dazwischen ist, ist Betrug. Betrug zugunsten von Böse, Unrecht, Gewalt, Sklaverei.

Entscheidung! Und jeder Mensch muß auf alle Ewigkeit sich entscheiden, täglich neu, für das Recht, die Hingabe, die Freiheit.



Legende vom Orient



Imaginär-Nationalismus

Die Menschen brauchen Berater. Sie brauchen im Menschentum Führer. Statt dessen haben sie Krieg. Und warum werden gerade die feinsten Menschen nicht Führer? Warum nicht gerade die edelsten, lautersten, wissendsten? Warum nicht die Söhne der Erkenntnis? Weil gerade sie aus lauter Wissen, Edelmut, Anständigkeit verhaspelt sind in die dümmste Modemeinung; verfangen ganz im Elend der Abhängigkeit des Gewesen. Weil sie Optimisten irgendeiner vagen Zukunft sind, die, meinen sie, erfüllet würde, auch wenn man nichts dafür tut. Unter den Besten, Fähigsten und Denkendsten geht immer noch der Aberglaube um, wer Erkenntnisse habe, der sei losgesprochen und frei vom dem lauten Kampf, von dem öffentlichen Bemühen um andere Menschen; entbunden von jener Durchzwingung der Meinungen, die ja eine Erkenntnis erst zur Verwirklichung bringen kann: entbunden von der Propaganda.

Aber Ende und Tod beginnt, wenn der Edle, Lautere, Feine aus Angst von der Verantwortung, aus Drang in die ruchlose Isolation des Gelehrten: beginnt, alles was edel, lauter, fein in ihm ist, zu klassifizieren; alles, was zukünftig an ihm wäre, als angeblich längst Gewußtes zu historisieren. Wenn er daran geht, alles, was er erwünscht, zu einer bloßen Denkkategorie zu gestalten.

Die Edlen, Lauteren, Anständigen haben sich nicht über ihr Schicksal zu beklagen. Sie haben es besser zu machen. Sie haben ihre Feinheit, Lauterkeit, Edelart nicht zu betrachten, sondern sie haben sie durchzusetzen. Sie haben sich für sie zu entscheiden.

Sie haben sich zu entscheiden.

Ein Wort Emersons: "Wehe, wenn der Allmächtige einen Denker auf diese Erde sendet. Dann ist alles in Gefahr. Es ist, als wäre ein Brand in einer großen Stadt ausgebrochen, und keiner weiß, was außer Gefahr ist, und wie alles enden wird. Da ist kein Teil in der Wissenschaft, der nicht morgen eine Veränderung seiner Lage erfahren sollte, kein literarischer Ruf, keine sogenannten ewigen Namen des Ruhms, die nicht einer Prüfung unterzogen und verurteilt würden. Die besten Hoffnungen eines Menschen, die Gedanken seines Herzens, die Religion der Völker, die Sitten und Morallehren der Menschheit, alle sind der Gnade einer neuen Verallgemeinerung unterworfen. Verallgemeinerung bedeutet stets ein neues Einströmen der Gottheit in den Geist. Daher auch der Schauer, der sie begleitet."

Aber heute sind die Menschen bereit, einem Denker zu folgen. Nach soviel Grauen ist ihnen keine Erschütterung der Welt, die vom Geiste kommt, mehr grauenhaft. Nach soviel Gefahr für die Menschheit ist jede Änderung der Welt aus dem Geiste nur himmlische Sicherheit. Und der Schauer, der eine neue Verallgemeinerung begleitet, wäre heute nur ein Schauer des Glücks.

Wo diese neue Verallgemeinerung - das völlige Aufstrahlen unseres realen, täglichen Lebens in einer unbedingten Führung des Geistes - wo das zu suchen sei, ist die Frage. Sehr edle, ganz lautere Menschen bieten sich an. Köpfe, deren jedes Stück ihrer Lebensgrammatik bis heute hochweihevolle Anständigkeit war. Sie sagen, der neue Weg der Menschheit führe zu einer tatsächlichen Unio mystica des Abendlandes mit dem Geiste des Orients. Die Brücke zwischen beiden sei das Judentum. Wolle man die Möglichkeit dieses neuen Weges erforschen, so könne man die vor allem an der Realität des Judentums prüfen.

Der bedeutendste Sprecher dieser Gruppe, ihr wortmächtigster, klarster Repräsentant ist Martin Buber. Das große Wissen, die Strenge gegen sich selbst und die Leidenschaft des Schriftstellers geben es Buber in die Hand, die Ideen der Menschen, welche er vertritt, am umfassendsten und am tiefsten darzustellen. Man hat kein besseres Mittel, diese Ideen zu prüfen, als in Bubers programmatischem Buch: "Vom Geist des Judentums". Bubers persönliches Verdienst ist es, die Voraussetzungen derer, für die er spricht, ganz außerordentlich gut formuliert zu haben.

Die Voraussetzungen seien zwei große, differente Menschentypen. Sie werden der "motorische Mensch" und der "sensorische Mensch" benannt. Der sensorische Mensch sei im Abendländer zu finden, im Europäer, historisch am geprägtesten im Hellenen. Dieser sei der Rezeptive, der Mensch, der seine Umwelt aufnimmt und daraus die Welt findet. Sein Gegensatz, der motorische Mensch, trage unter dem Drucke einer Idee seine Welt in die Umwelt hinein. Der motorische Mensch sei der orientalische Mensch. Der reinste Typus des motorischen Menschen liege im für uns sichtbarsten Typus des Orientalen: im Juden.

Lassen wir zunächst die Frage offen, ob wirklich die Begriffe Abendland = Sensorium, und orientalisch = Motor sich decken. Jedenfalls, den "sensorischen" Menschen, den Menschen seiner Umwelt, kennen wir reichlich. Aber sehr wenig kennen wir den motorischen Menschen, den unbedingt Handelnden. Er ist einfach seltener. Soviel seltener, als wirkliches Handeln seltener ist denn Stimmung; Mitgerissensein; Hingabe, noch ehe das Wissen um Hingabe da ist, im Genuß.

Die Formeln für einen sensorischen und einen motorischen Menschentypus werden als erste Voraussetzung für alles Kommende aufgestellt; aus Gründen, die noch klar werden.

Hier ist zu sagen: Definitionen dürften diesen Platz nicht einnehmen. Es sind keine Voraussetzungen. Fragen wir nach dem unbedingt handelnden Menschen, so müßten wir auch die stärkste Konsequenz ertragen können. In Wahrheit sind die ersten Voraussetzungen für den handelnden Menschen: Gläubigkeit. Wissen um das Absolute (Gott). Kenntnis der Äußerung des Absoluten in der Welt (Geist). Unbedingtes Durchdrungensein von dem Kriterium: Wert. Und vor allem: der handelnde Mensch ist ein öffentlicher Mensch, kein Privatwesen. Ein Mensch des Zusammenhanges, nicht der Isolation. Das sind die Vorbedingungen für die Konstitution des handelnden Menschen. Man kann ihn, wenn man durchaus will, auch "motorisch" nennen. Ob er Orientale oder Abendländer ist, spielt, wie man sieht, bereits keine Rolle mehr.

Nun heißt es aber: "Beide (der motorische und der sensorische Mensch) denken; aber des einen Denken meint Wirken, des andern Denken meint Form." Indes Wirken - wofür? Form - wovon? Allzulange hören wir schon das geheimnisvolle Murmeln der Form-Theorien. Wir machen das nicht mehr mit! Denn diese vage, doch in sich selbst schon selig versinkende, inzuchtartige Setzung der Form an sich konnte nur möglich sein in einem Zeitalter des unsichersten Relativismus. In einer Zeit, die den bloßen Schein einer Sicherheit schon als Beruhigung und die Sicherheit selbst aufnimmt. - Vor der Idee des Absoluten verliert aber "Form" jede Selbständigkeitsbedeutung. Und "Wirken" kann doch nur im Sinne des Wirkens zur Formwerdung von Geistigem ausgesprochen werden, im Sinne der Verwirklichung. Worin sollte denn Wirken sich äußern, wenn nicht in Form. Aber beide, selbst zu Zwecken der Definition, als Gebilde an sich zu trennen, ist in Wahrheit nur Vermischung. Wird das gutgemacht dadurch, daß wir es mit Verwirren nur aus Liebe zu tun haben? Mit Vermischern aus übergroßer Gerechtigkeit gegen Gewesenes, heute schon Form-Seiendes; und daß alles dieses von einer tiefen Befangenheit in mancherlei Neo-Renaissancevorstellungen ausgeht.

"Der Eindruck, der einen der Sinne des motorischen Menschen trifft, geht als Stoß durch alle, und die spezifischen Sinnesqualitäten erblassen vor der Wucht des Gesamtzustandes." - Eindruck? Aber welche Welt lieblichster Stillebenmalerei spricht hier zu uns? Nein, es handelt sich nicht um Fragen des Zeitstils, nicht um abgetanen Impressionismus; das wäre ja nur äußerlichstes Symptom. Sondern darum, daß "Eindruck" nur da eine Rolle spielt, wo noch die Gipfelung der Relativitätsphilosophie aus dem neunzehnten Jahrhundert die Hauptsache ist, nämlich im sogenannten Erlebnis. Daher später der ganz folgerichtige Anbau. "Wie der Okzidentale die Bewegung, die bewegte Erscheinung der Welt aus seiner Empfindung begreift, so ist es dieses sein Wissen um den Kern und den Sinn seines Lebens, aus dem er den Kern und Sinn der Welt erschließt."

Empfindung? Nein. Denn nicht Erlebnis treibt zum Handeln, treibt zu irgendetwas überhaupt, sondern der Geist. Wissen? Aber wo ist das Kriterium des Wissens, wenn nicht im Absoluten? Beim motorischen Menschen sei, nach jener Empfindungshypothese, "das Sehen nicht souverän, es dient nur der Vermittlung zwischen der bewegten Welt und der latenten Bewegung des eigenen Leibes, der befähigt ist, jene mitzuempfinden und mizuleben ... Die Bewegung der Welt ist es, die er mit dem Gesicht wie mit den andern Sinnen aufnimmt, und die sich in ihm fortpflanzt." Es ist doch die Rede vom handelnden Menschen. So muß man gegen diesen Irrtum feststellen: der Leib ist vor Gott nicht dazu da, um die Bewegung mitzumachen, sondern um sie zu machen! - Vor lauter Differenzen kommt es oft zur Flachheit: "Er (der motorische Mensch) wird weniger des Umrisses inne als der Gebärde; weniger des Nebeneinander als des Nacheinander." Aber erstlich ist "Gebärde" schon ein Ruhendes, daher auch in der Hofmannsthalzeit ein mit Vorliebe zu verschlafener Pseudo-Bewegtheit benutzter Ausdruck. Und dann: Für den Handelnden gibt es kein "Nacheinander", ebensowenig wie dessen Schulgegensatz, das "Nebeneinander" (als Ruheangelegenheit). Die Aufstellung solcher Gegensätze ist die Konsequenz des philosophischen Naturalismus von Hochrenaissance-Ideen.

"Der motorische Mensch (der orientalische) spürt die Welt mehr, als er sie wahrnimmt; denn sie erfaßt und durchfährt ihn, sie, die dem Okzidentalen gegenübertritt." Aber das ist einfach nicht richtig. Denn es gilt ja nur: unter Gott stehen (oder Gott vergessen haben)! - "Der Okzidentale", meint die Empfindungshypothese, - "begreift seine Empfindung aus der Welt, der Orientale die Welt aus seiner Empfindung." Aber es handelt sich nicht ums "Begreifen", sondern ums Handeln! Das Handeln wird uns diktiert. Ja, gäbe es Unterschiede im Handeln. Aber es gibt nur den einen: von Gott gerufen sein und handeln, oder Gott vergessen und ruhen. Dieselbe relativistische Willkür, die das Wissen des Orientalen um den Sinn der Welt aus der Empfindung hypostasierte, zieht auch den Schluß: "Der Orientale trägt die Wahrheit im Kern seines Lebens und findet sie in der Welt, indem er sie gibt." Aber woher das Wissen der Wahrheit? Und scheint nicht hier eine Art von umgekehrtem Hegel aufgestellt zu sein, etwa: "alles, was 'gegeben' werden kann, ist Wahrheit!" Doch das wäre Gehirnspiel innerhalb eines Kreises von Definitionen.

Alle diese Voraussetzungen erwiesen sich, aus Mangel an nötigeren, stärkeren ersten Voraussetzungen, als gerüstlos.

Das Hauptthema derer, für die Buber spricht: "Die eigene Welt soll - und hier begegnen einander alle großen asiatischen Religionen und Ideologien - nicht bloß konzipiert, sie soll realisiert werden. Sie ist dem Menschen nicht gegeben, sondern aufgegeben; es ist seine Aufgabe, die wahre Welt zur wirklichen Welt zu machen." Das ist sehr schön. Und jeder von uns nimmt diese klare und selbst schon ethisch wirkende Bestimmung der Ethik froh an. Aber - im Falle am Ende "Ethik" als etwas Asiatisches leicht verdächtig gemacht werden soll, gegenüber dem abendländischen Sensoriker, dem hellenischen, angeblich anethischen Menschen - hier gibt es zu erklären: Wir sind nicht Asiaten. Doch selbst wenn Ethik etwas Botokudisches wäre, dann noch sind wir für sie!

"Hier bewährt sich der motorische Charakter des Orientalen in seiner höchsten Sublimierung: als das Pathos der Forderung." Es gibt gewiß nichts Stärkeres auf der Welt als das Pathos der Forderung. Haben wir andere Aufgaben, als immer wieder, immer mehr zu fordern, fordern, fordern! Aber, wenn man die Forderung als Ausdrucksart eines bloßen Sondertypus der Menschheit verdächtigt, macht man sie damit nur unwirksamer. Doch die Forderung ist die höchste Stufe des schaffenden und zeugenden Menschen (nicht des Orientalen allein). Wie man sie unwirksam, heillos macht, dessen ein Beispiel: "Die Forderung mag durch eine ganz innerliche Tat erfüllt werden; so meint es der Inder der Vedanta, der, das Gewebe des Scheins zerreißend, sein Selbst als mit dem Selbst der Welt identisch erkennt und die wahre, die einzige Welt in der allumfassendsten Einsamkeit seiner Seele verwirklicht." Aber das ist Umfug: Diese angeblich innerliche Tat ist keine Tat. Die Verwirklichung in der allumfassenden Einsamkeit der Seele ist nicht umfassend; schlimmer noch: nicht einmal um ein Gran verwirklicht! Macht denn einer dem Krieg ein Ende, wenn er in der allumfassenden Einsamkeit seiner Seele den Frieden aller Nationen verwirklicht? Nein, er verwirklicht gar nichts. Er umfühlt nur wohlwollend irgendeine Verwirklichung, die andere tun. Das ist billig, denn er brauchte sich nicht zu entscheiden. Erste Bedingung zum Menschentum heißt: Entscheidet Euch!



Unbedingtheit

Das Thema der Entscheidung gehört zum Wichtigsten im ganzen Leben des Menschen. Keine Handlung ohne Entscheidung, ohne Parteinahme für einen absoluten Wert. Aber man sollte dies doch nicht mit einer Sonderphilosophie umspielen; man schwächt sonst alles. "Der Jude bringt die Welt zur Einheit, indem er sich entscheidet." Nur der Jude? Warum die Angst davor, jedem Menschen die Entscheidung nahezubringen? "Der in der Entscheidung steht, weiß nichts, als daß er zu wählen hat, und auch das weiß er nicht mit dem Denken, sondern mit dem Sein." Das ist tief richtig. Aber ist es nur jüdisch? Nein, es ist menschliches Urphänomen. Wie könnten diese Einsichten - statt Stichwörter einer Gruppe - Aufrufe zur Humanitas werden; es fehlt immer nur eine kleine Menschlichkeitssekunde daran. "In Wahrheit wirkt die Tat tief und heimlich ins Schicksal der Welt, und wenn sie sich auf ihr göttliches Ziel, die Einheit besinnt, wenn sie sich von der Bedingtheit losmacht und im eigenen Lichte, das ist im Lichte Jahves, wandelt, ist sie frei und gewaltig wie Gottes Tat... Was Europa fehlt, ist die Ausschließlichkeit der Kunde vom wahrhaften Leben, die eingeborene Gewißheit, jenes Eins tut not. Dies ist es, was in den großen Lehren des Orients und einzig in ihnen schöpferisch besteht. Sie setzen das wahrhafte Leben als das fundamentale, von nichts anderem abgeleitete, auf nichts anderes zurückführende metaphysische Prinzip; sie verkunden den Weg."

Man lese das nicht als verantwortungslose Weisheit, sondern als Aufruf, und es ist herrlich. Es hat mit der ganzen Welt der Menschen zu tun. Aber aus einem unsichtbaren Winkel schwebt ein Schatten von Angst und Hochmut vorüber; und alles, was schön, mutig, wirklich ist, wird vom Menschen abgezogen und dem orientalischen Menschen zugeschoben. (Dabei: fragte man heute die Schöpfer unserer Zeit, Maler, Dichter, unbedingt Fordernde, Literaten, nach ihrem Wege, so würden sie sagen müssen, daß diese Dinge in ihrem Schaffen Selbstverständlichkeit und Wirklichkeit sind. Ganz fern von Exotismus und Seelen-Orient!)

Zuletzt kommt dieser Traditionalismus aus einem ganz naiven Besitzaberglauben. Es ist die Überzeugung, daß aller Besitz der Welt erhalten bleiben müsse, weil sie sich soviel Mühe darum gemacht hat. Und nicht bedenken jene, daß es eine Vorbedingung des Erfolges aller Mühe ist, daß man sie sich umsomst macht, stets bereit, alles Errungene wieder zu opfern, stets vor dem Nichts-zu-verlieren-Haben! Aber jenen, für die Buber spricht, ist unumstößlich gewiß, daß alles Seiende bewahrt werden muß. So unumstößlich gewiß, daß sie zuerst nicht für das Handeln, sondern immer für das Bewahren eintreten. Ihre Neigungen gelten jeder Art von Gewesenheit, von Antiquitätenkult, Bibliophilenpolitik, Ancien-Régimokratie "Das Zeitalter, in dem wir leben, wird man einst als das der asiatischen Krisis bezeichnen. Die führenden Völker des Orients sind teils unter die äußere Gewalt, teils unter den innerlich vergewaltigenden Einfluß Europas gekommen." Und dazu ein geradezu rührendes Naserümpfen über Chinas moderne Staatsformen.

Aber seit wann ist denn ausgemacht, daß Seiendes erhalten bleiben muß? Daß die Erhaltung ein Wert ist? Denn wenn es für Gott gilt, die Welt sich zu nähern, dann schüttelt er sie! Man hat die große geistige Retardation des vergangenen Jahrhunderts enthüllt: den Renaissancismus. (Baumgartens kulturkritisches Werk über Conrad Ferdinand Meyer.) Wo bleiben die Nachfolger? Sie sind nötig, die die anderen Fluchtversuche der Zeit blosstellen: den Asiatismus, den Chinesismus und Induismus; den Ägyptismus; den Absturz auf einen Pan-Orientalismus; und den Exotismus, der Primitiv-Kostüme angeblicher Urzeiten schneidert. Selige Versenkung in die Ferne - nur damit man die Nähe zum Teufel gehen lassen kann, ohen eine Hand zu rühren; selbst im Verrecken noch ein süßes Schlagwort aus dem Katalog der Historie auf den Lippen!

Es geht wahrhaftig nicht um entgegengesetzte Meinungen. Bloßes Rechtbehalten ist in der Welt gar nichts nütze. Aber, bei Gott, das hier ist ein Kampf um Ziele. - Sollte man es wohl glauben, daß Menschen heute noch, nach allen unseren Erfahrungen, oder womöglich trotzdem, der Meinung sind, es gäbe immer noch zu wenig Nationen; die Welt müsse immer noch stärker nationalisiert werden! Daß sie gar nach dem Ereignis des Krieges, dieses Endeffekts der allgemeinen Nationalisierung der Erde, immer noch den Zionismus betreiben, imemr noch suchen, die Juden aller Länder zu einer neuen, geographisch abgesonderten Nation zu machen, unter der Behauptung, die Juden seien schon eine Nation, eine alte!

Darauf läuft die Orientalisierung des menschlich Anständigen schließlich hinaus. Daher rührt das ewige Sichducken, das immerwährende Es-nicht-gewesen-sein-Wollen, Nichts-gesagt-haben-Wollen. Alle Umwege der Barockmystik, alle Feierlichkeit der Rede, aller Glanz junger Fähigkeiten dienen, um aus den wertvollen Kräften des Menschenwesens zur Konstituierung einer nationalen Sondergruppe zu gelangen. In jenem Programmbuch ist eine ganz wunderbare Darstellung der ersten, notwendigen geistigen Situation für den schaffenden Menschen gegeben. Aber der Autor sagt: für den jüdischen! Um die (still geduckte) Hochmutsphase des jüdischen Nationalismus unmerklich einzuführen. Jene Gegend, wo es nicht mehr heißt: Jude = gleich Sondermensch. Sondern Mensch = gleich Jude. - Indes solche Gedankengänge kommen nicht aus irgendeiner spezifischen Naturanlage des Denkers, sondern sind nur ein schwerer menschlicher Mißgriff. So sagt der Zionist: "Man fälscht den Sinn des Aktes der Entscheidung im Judentum, wenn man ihn als einen bloß ethischen behandelt; er ist ein religiöser, vielmehr: er ist der religiöse Akt, denn er ist die Verwirklichung Gottes durch den Menschen." Da wird also erstlich angenommen, es gäbe einen Unterschied zwischen Ethisch und Religiös. Als ob nicht das Sollen allein und lediglich für Gott geschehe!

Zum andern, - welche naiv gefühlvolle Natur-Milchmädchenmystik, Gott müsse durch den Menschen verwirklicht werden! Aber diese fatale und allzu pfauenartig eitle Spätrenaissance-Theologie kommt nur daher, daß man im Menschen immer durchaus eine Einheit feststellen will. Man will versteckt quietistisch, den Wert ausschalten; die Außerwertigkeit soll als etwas Höheres hingestellt werden, während sie in Wahrheit nur ein Defizit ist. Und also will man den Menschen auch in seinen offenbaren Minderwertigkeiten rechtfertigen, wiederum aus Angst vor den möglichen Resultaten einer Wertung. Wie ungeistig. Wie mutlos. Denn nicht das kann ja unser höchstes Ziel sein, die Bilderbogenideen: zur Einheit zu gelangen, sondern das ist es: zur Reinheit zu gelangen. Selbst wenn man dabei zur Trennung kommt. Doch der Zionist baut sein Handeln auf eine vorgebliche Einheit: "In der Unbedingtheit seiner Tat erlebt der Mensch die Gemeinschaft mit Gott."

Die übliche pantheistische ekstatische Konfession. Ah, mögen doch endlich die Mystiker aufhören, von einer Gemeinschaft des Menschen mit Gott zu reden. Denn nie wird diese Gemeinschaft erlebt. Nie hat ein Ernster gewagt, sie zu behaupten. Diese Gemeinschaft ist nicht möglich. Solche Vorstellung von Gott ist allzusehr Damenkloster. Und stets noch, wo den Menschen Absolutes sicher stand, wo Religion nicht in Sensual-Pietismus verglitt, wußte man, daß der letzte, dem Menschen erreichbare Punkt der Heiligkeit allein ist: zur Fähigkeit vom Bewußtsein der Existenz Gottes zu gelangen.

Aber warum glauben denn diese Mystiker nicht ans Wunder, sondern nur an ihre Worte? "Das Psalmwort, Gott ist allen nahe, die ihn rufen, allen, die ihn mit der Wahrheit rufen - heißt: mit der Wahrheit, die sie tun." - Nein. Das heißt es nicht. "Rufen" heißt nie Tun (und hier heißt es zudem "Glauben"). - "Die Wahrheit ist kein Was, sondern ein Wie." Hier greift man ins Innere der zionistischen Mystik: da liegen nur die alten ruchlosen Konsequenzen der selbstgefälligsten Impressionisten- und Formphilosophie. Aber seit deren Wirksamkeit ist das Uhrwerk einer Generation abgeschnarrt. Und hier nimmt der Zionismus durch Selbstverbrennung an sich Rache für die innere Feigheit seines Kreislaufs um sich selbst: "Nicht der Inhalt der Tat macht sie zur Wahrheit, sondern ob sie in menschlicher Bedingtheit geschieht. Nicht die Materie der Tat bestimmt darüber, ob sie im Vorhof, im Reich der Dinge verläuft oder ins Allerheiligste dringt, sondern die Macht der Entscheidung, die sie hervorbringt, und die Weihe der Intention die ihr innewohnt."

Zu deutsch: es kommt nicht darauf an, was geschieht, sondern nur, daß etwas geschieht. Aber das ist falsch, und auf die fürchterlichste, gefährlichste Art. Man sieht es am Krieg. Denn das Was einer Wahrheit, ihr Inhalt, wird ebenso stark aus dem Resultat wie aus dem Weg zu diesem Resultat bestritten. Erst der Weg zum Resultat macht das Resultat siegreich. Daher kann die (eine ausgezeichnete Formulierung Martin Bubers) "Materie" der Tat - durch die der Weg der Tat doch gehen muß - unmöglich eine matière négligeable sein. - Und was ist "Weihe der Intention"? Unsinn! Denn nur die Intention bestimmt die Weihe. Aber erinnert man sich noch an die vielen intereuropäischen Kongresse vor dem Kriege, denen nur das Bedürfnis nach Weihe die Intention gab, und die darum Bluffs waren und auch von fern nicht imstande, der ganz weihelosen Intention des Kriegs ebenbürtig gegenüberzutreten! Man schaue die Zionisten an: sie sind geweiht, aber es fehlt ihnen jede Intention. Sie wallen, aber sie sind noch nicht einen vorwärtstragenden Schritt gegangen.

Ziehen wir den Schluß: bei diesem ungeheuren Aufgebot von Hingabe, Nachdenken, Können; bei diesen funkelnd tauchenden Kreisen einer Rhetorik der Andeutungen kommt es einzig an auf die schöne Geste. Auf Fresko. Judentheater mit Reliefbühne. Und das Herz steht einem still, wenn man daran denkt, daß von irgendeiner Schönheitstheorie der Zionisten das wahre Schicksal, das Leben von hunderttausenden Juden abhängen sollte.

"Das innere Schicksal des Judentums scheint mir daran zu hängen, ob - gleichviel in dieser Gestalt oder einer andern - sein Pathos wieder zur Tat wird." Aber das ist doch eine grauenhafte Schauspielauffassung des Lebens! Militärmärsche pflegt man zu komponieren, wenn es im Lande schon Truppen gibt. Und Pathos hat nur ein Daseinsrecht zur Bestrahlung von bereits Geleistetem. Doch die hier wollen um des Pathos willen marschieren lassen, marschieren nach Palästina. Aber kommt es ihnen nicht auf den Orient an? Auf den Orient des "motorischen" Menschen, den altneuen Orient.



Mythos

Der alte Orient! - Es ist sehr wohl möglich, daß jene allgemeinste menschliche Ehrenangelegenheit, die Entscheidung, historisch sichtbar zuerst im Trieb der Juden sich zeigte. Aber woran sie sich verwesentlicht: alles Denken, Greifen, Fühlen: alle täglichen Gegenstände, alle Bilder der Dichterhirne - alles ist gänzlich ein Teil, nur ein Teil des großen altorientalischen (überjüdischen) Ideenreiches. Der Zionist verteidigt die biblischen Schriften gegen den (als Beschuldigung kindlichen) Vorwurf, sie seien bloße Nachkommen der babylonischen. Als ob das wichtig wäre! Nicht wichtig sind wörtliche und sachliche Übereinstimmungen oder Abweichungen. Wichtig ist: daß babylonisches Weltdenken in denselben Grundvorstellungen verläuft wie jüdisches. Literarische Führer des Zionismus sprechen vom Mythos.

Aber der Theoretiker, er, der Hochgebildete, der es weiß, und sich gewiß damit auseinandergesetzt hat, verschweigt uns, daß wir seit Jahren ganz ungeheuerliche Aufschlüsse über den altorientalischen Mythos haben. Daß die Mythenforscher Eduard Stucken, Hugo Winckler, Alfred Jeremias, daß die Veröffentlichungen der vorderasiatischen Gesellschaft uns sagten: Das Weltgefühl, die Rezeptivität und die Ausdrucksart des alten Orients ruhen in einer, uns heute geradezu unvorstellbaren Art auf der Abstraktion. Das altorientalische Weltbild ist abstrakt: ein Gestirn - in jenen Zeiten von ganz anderer, schon sachlich geographischer, praktischen Bedeutung für alle Bevölkerungsschichten als heute - ist jedem Menschen gegenwärtig in seinen Stellungen. Aber dominierende Bedeutung für die Welterklärung und die Produktivität der Bildersprache bekommt die jener Zeit erstaunliche Tatsache, daß man die Gestirnstellungen wirklich vorher festlegen kann.

Die Zahl kommt zu einer Gefühlsbedeutung, die sie heute längst abgeschliffen hat. Die Babylonisten haben das heute festgestellt, nicht durch angenehmes Raten, sondern durch mächtige, wissenschaftliche Einzelarbeit; und sie haben die Durchsetzung der gesamten modernen Kultur, die entferntesten Negerstämme mit eingeschlossen, von babylonischer Sternmythologie aus dem Anfang des dritten Jahrtausends a. Chr. n. bis in unsere heutigen, gefühlsmäßigsten, bereits instinktiv gewordenen Gebräuche festgestellt. Die Abstraktion auch des alten Orients ist über jede Vorstellung weit entfernt von unserer heutigen Abstraktionstätigkeit. Unsere Abstraktion ist Steigerung des Menschendenkens bis zur allgemeinsten Gültigkeit, bis zu einer letzten Zeichensprache des Denkens, die, über die ganze von Menschen bewohnte Erdkugel hin, das Denken jedes Menschen einbezieht.

Aber die altorientalische Abstraktion ist menschenfern. Sie setzt die geozentrische Weltauffassung der Antike voraus, und sie hat die Anschauung von der Erde als einer Ebene, über der die Sternbewegungen in der langsamen Rundwanderung des Tierkreises vor sich gehen. Der Zug der Planeten durch die zwölf Tierkreiszeichen beherrscht Gefühl, Phantasie, Vorstellen und Handeln jenes antiken Menschen völlig. Das hohe Mysterium, das heilig Esoterische, der Angelpunkt aller Prophetie und des antiken Messianismus ist die Feststellung, daß auch der Aufgang der Sonne während des Frühlingsäquinoktiums (der Frühlingspunkt, die Kreuzung der Ekliptik mit dem Himmelsäquator: das himmlische Kreuz) im Tierkreis weiterrückt, von einem Tierkreiszeichen, um dreißig Grad, zum andern in ungefähr 2200 Jahren.

Für die Juden übrigens hat nicht die Sonne, sondern ihr mystisches Gegenspiel, der Mond, die größte Bedeutung gehabt; die Tradition hat das von den religiösen Riten bis tief ins praktische Leben hinein bewahrt. (Die Juden sind ein "Mondvolk". Moses trägt die Hörner des Monds auf dem Haupt. Ihre Hervorhebung bei Michelangelo ist tiefe Intuition.) Diese Dauer des Verweilens des Frühlingspunktes in einem Tierkreiszeichen ist "das Zeitalter". Um das Jahr 2900 v. Chr. trat die Welt in das Zeitalter des Stiers, um 700 v. Chr. ins Zeitalter des Widders; seit etwa dem Jahre 1500 unserer Zeitrechnung stehen wir im Zeitalter der Fische. (Dem Stierzeitalter voraus geht das Zeitalter der Zwillinge: Was in urgrauer Vorzeit vorgestellt werden soll, wird unter die Herrschaft der Zwillinge velegt; Gründung Roms. Nach der Annahme der Marburger Assyriologen P. Jensen - übrigens eines Gegners der großen Astralmythologen -, stammt die Konzeption des Tierkreises aus der Stierzeit. - Der Stiermythus wirkt bis in frühchristliche Zeit nach. Mithrakult. Der Widder das Lamm Gottes. Die Fische sind den Urchristen gefühlsererbtestes Symbol des kommenden messianischen Zeitalters; die Annahme, der christliche Fisch, der ΙXΘΥΣ, sei eine Zusammensetzung aus Anfangsbuchstaben der griechischen Worte für: Jesus Christus Gottes Sohn Heiland hat sich auch als falsch erwiesen; im Gegenteil, der Satz ist erst nachträglich, und nicht vor dem vierten Jahrhundert, im geheimdeuterischen Begriffsspiel aus den griechischen Buchstaben des altüberkommenen Sternsymbols Fisch herauskabbalisiert worden. Und wie merkwürdig unbeachtet blieb auch bisher, daß die astrale Überzeugung, um 1500 p. Chr. n. müsse ein neues Zeitalter beginnen, wohl die stärkste geistige Vorbereitung der Reformation war!) Schon diese Andeutungen hellen Außerordentliches auf. Jedes dieser, ganz subjektiv vom geozentrischen Standpunkt aus beurteilten kosmischen Daten ist ein weithin wirkendes Zentrum riesiger religiöser und politischer Umwälzungen: der mächtigste wirkende Inhalt jedes überindividuellen Handelns der alten Zeit. Das Wissen um den Wechsel der kosmischen Zeitalter, und die Vorsellung davon ist heiligste Lebenskunde des orientalischen Altertums, der größte Umfang und die reichste Quelle jedes bewegungsschaffenden Mythos.

Aber nicht für uns!

Jeder heute kennt die astronomischen Gründe, aus denen jene antike Abstraktion, dieser Mutterschoß des orientalischen Mythos, für uns keinen echten Gefühlstrieb mehr gebären kann. Eine plumpe und flach unwissende Aufklärung meinte einst, Religion - die Auswirkung des Mythos - sei Priestertrug gewesen. Das war dumm und falsch gemeint, denn solange der Mythos echt war, war auch seine Lebenswirkung wahr. Aber ebenso dumm, falsch, flach, unwissend und plump ist es auch, unserm heutigen Menschlichkeitsbewußtsein eine neue Verdunklung entgegenzuhalten, und zu sagen: "Humanitas ist ein überwundener Standpunkt; es kommt darauf an, wieder zur ewigen Wahrheit des Mythos zurückzukehren, um jeden Preis von Menschenleben!" O lebensgefährlicher Irrtum! Keine ewige Wahrheit ist der Mythos, sondern nur eine zeitliche. Ebenso respektabel, ebenso uns fern wie andere zeitlich gebundenen Gefühlswahrheiten. Aber heute nicht um das erbärmlichste Menschenleben wertvoller, wirkungsberechtigter, lebenszielgebender als beispielsweise für die heutigen Bewohner Griechenlands eine Erinnerung an die zwölf (Tierkreis-) Taten des Herakles. (Die ungeheure Weltdiskrepanz, das schauerliche Mythoselend des mittelalterlichen Judentums - dieser Gemeinschaft aus Isolation - tritt zutage in der hoch wertvollen Quellenforschung von Erich Bischof: "Babylonisch-Astrales im Weltbild des Talmud und Midrasch.")

Daß auch Zionisten dies wissen, wäre vorauszusetzen. Aber aus einem tiefen Instinkt vernachlässigten sie die Mitteilung, daß die wichtigste Dimension der altorientalischen Welt - zu der das biblische Judentum nur als ein ethnographisches Sondersegment gehört - daß ihr Wichtigstes die Abstraktion ist. Sie sprechen oft von Mythos - und es dient nicht einer entscheidenden Klärung, wenn dieses Wort, dessen Inhalt doch erst zur Mitteilung von Geheimnissen dient, schon in seinem stilistischen Gebrauch selbst als geheimnisvoll verdunkelnde Klangschwingung gebraucht wird. Wer vom Mythos spricht, müßte äußerste Klarheit darüber schaffen, daß der Mythos eine Versinnlichung durch das alltägliche Mögliche und Greifbare einer abstrakten Urkonzeption ist. Man darf nicht mehr das Abstrakte des orientalischen Blicks verschweigen. Aber der Zionist macht seinem Gegenüber dunkle Andeutungen vom Mythos und knüpft an diese Andeutungen ethische Folgerungen; Forderungen dessen, was sein sollte. Die ethische Folgerung, die er aus dem Mythos zieht, heißt: Auf nach Zion! Doch wie, wenn man einmal dem Mythos ins Gesicht blickte? Und wenn man aus anderer - heutiger - Voraussetzung zu anderer - heutigerer - Folge gelangte? Wenn - ganz abgesehen von allem Folgern, ganz außerhalb des Folgerns - einem jenes Ethos selbst fadenscheinig dünkte? Und wenn von allem nur übrigbleibte. Der erste Beginn des Menschen: das Ethische; und die letzte Ausflucht des Menschen: das Ethische.

Aber das haben wir ja schon lange gewußt!

Man entgegnet mir: Der Mythos sei überhaupt zu jeder Zeit, überzeitlich, der Vorbeginn alles Fühlens, Denkens, Entschließens des Menschen, und jeder Mensch habe im Dunkel seiner Geistesverrichtung den Jahrtausendweg der Menschheit am Mythos zurückzulegen. Darauf wäre zu antworten: Das ist von vornherein falsch, denn diese Hypothese entspringt der willkürlichen Übertragung rein naturwissenschaftlicher Prinzipien (Phylogenese) auf das Geistige. Es ist aber auch sachlich falsch, denn gerade die Tatsache, daß in unserer Kultur Rudimente rein instinktmäßig herrschen, die in ihrer Vollkommenheit vor Jahrtausenden die Regenten des bewußten Willens waren, zeigt, daß wir im Mythos vor einem bloß historischen Faktum stehen. Jene Lenbenserscheinungen unserer Zeit, die sich als letzte, verblaßte Ausläufer eines Mythos erkennen lassen, zeigen vor allem, daß es in unserer Kultur Wurmfortsätze Babylons gibt. Sind sie zu bewahren? Wird etwa jemand den Blinddarm als das herrlichste Symbol allgemein überzeitlichen Tierlebens preisen? - Man hat mit gefährlichen Wurmenden des Mythos zu machen, was man mit dem Wurmfortsatz zu machen pflegt, wenn er Entzündungen hervorruft.

Aber der neue Mythos? Darauf ist zu fragen: Warum muß nur durchaus eine neuer Mythos aus der Erde gestampft werden? Leben wir etwa für zukünftige Mythologien? Oder, leben wir nicht vielmehr, um zu handeln! Und wenn durchaus der neue Mythos da sein soll, so kann er doch erst kommen, wenn eine neue Abstraktion da sein wird. Innerhalb des altorientalischen Kosmos können wir heute nicht mehr schöpferisch denken. Und gerade das Hauptresultat der babylonischen Abstraktion, das bis zu Paracelsus hochwirkend ist, erscheint uns heute notwendig als eine kuriose Bildlichkeit, etwas niedlich Dichterisches, eine angenehme, oberflächliche Metapher: die Annahme einer Entsprechung von Himmel - Makrokosmos und Erde - Mikrokosmos; die Annahme der notgedrungenen Parallelität zwischen Makrokosmos - Himmel-Erde und Mikrokosmos Mensch.

Die letzte große Ausschwingung des babylonischen Gestirnmythos wurde wirkend in der Kabbala. Aber betrachten wir das mystische Schema des kabbalistischen Menschen mit seinen mythischen Himmelsentsprechungen: Als Abbild irgendeines Seins, als Feststellung genommen ist es heute völliger Unsinn. Aber als Aufzeichnung ethischen Strebens gefaßt - wenn man den alten ethischen Sinn der Gestirnbetrachtung einsetzt - ist es unendlich schön. Und dabei stellt sich wieder heraus: Nennt nur das Ethische, das Wollen, das Streben, das Handeln, und es wird schon durch sein bloßes Genanntsein lebendig. Noch auf der Hintertreppe ist das Ethische interessant, das heißt von uns allen als mächtigster Faktor unseres Lebens erkannt. Was bleibt vom Ethos? Alles. Was bleibt vom Mythos? Eine historische Schabracke.

Und dazu, für den Mythos, Palästina bemühen? Palästina nahelegen: deutschen Juden, die zu Friedenszeiten schon schwer in Frankreich leben konnten; italienischen Juden, denen es nicht anders in Deutschland ums Herz war; französischen Juden, denen Amerika zu wenig französisch war! Für Menschen, die bereits Nationen angehören; für schon - wie ihre Mitbürger - allzu Einnationalisierte, die der Krieg zu noch größerem Nationalismus drängte; für sie wiederum eine neue Nation errichten! Mythos ist Gewohnheit. Wenn auch Seelengewohnheit. Aber darum nicht weniger böse, grausam und gefängnishaft wie jede andere Gewohnheit. - Ach, und den größten Teil des Unglücks der Welt verdanken wir der Blendung des Augs durch unsere Gewohnheiten, dem seelischen Räkeln in unsern Gewohnheiten, und unserer unbekümmert verantwortungslosen Zustimmung auch zu Teuflischestem - wenn nur einer verspricht, unsere Gewohnheiten zu retten!

Der Mythos ist längst Gebrauch geworden. Unsinnig ist es, zu wünschen, daß der Gebrauch wieder Mythos wird! Das wissen wir ja, daß wir in allen Richtungen der blinden Gefühlshingabe noch heute unter dem Druck des alten Orients stehen; bis in scheinbar geistige Sublimierungen: in unserem Musiksystem, in unseren Sprachbildern, sogar in Traditionellem unserer Architektur und der bildenden Kunst. Also klar ausgesprochen: In unserem bloßen Vegetativleben. Und in den meisten unserer staatspolitischen Symbole! (Umfassend nachgewiesen von Robert Eisler in dem bedeutenden Werke "Weltenmantel und Himmelszeit". Daraus ergeben sich auch dei Suggestivideen des Imperalismus als alte Symbole einer verwesten Mythenwelt.) Jedoch wenn unser Vegetativleben, unser seelisches Pflanzenleben unter dem Strahlendruck des Orients steht: Wichtig ist heute, tausendmal wichtiger, das einzig Wichtige ist die Frage: Welcher ist der Strahl, der von uns ausgeht? Deutlicher: Welches ist unser Wille?

Und nur ruhevoll plätschernd wäre die Folgerung: Also auf, und verstärkt den Orient in euch noch, auf zum Orient nach Zion! Ruhevoll verrückt wäre das! Es läge ein Fall von unerhörtestem, inzestuösem Egoismus vor: Ein Mensch glaubt, daß einer Sondergruppe von Menschen, hier den Juden, bestimmte wertvolle Kräfte eigen seien. Diese Kräfte will er - nicht etwa der Menschheit, die es sehr nötig hat, zuführen, sondern wiederum jener Gruppe selbst, die sie produziert! Der Zionist schiebt alles, was stark, bedeutend - womöglich neu - ist, auf Seite des Orientalen; alles Relativische auf Seite des Okzidents. O Typisierung! Ist es nicht Unrecht, mit Völkern und Jahrtausenden umzuspringen, nur um einige Begriffe zu destillieren? O dünnste aller Legenden!

Doch auch diese Begriffe sind nicht dicht. (Man zeige mir die Unentschiedenheit etwa und Relativität der Hellenen.) Nein, der Theoretiker des Zionismus pflegt ein Abkömmling der rührseligen Goethephilologie zu sein, die Wucher mit der Vorstellung vom Erlebnis trieb. Innerhalb dieser Vorstellung ist alles gleichwertig. Aber seid gewiß, es gibt Werte auf der Welt! Also käme es auf die "Richtung" an? Ja, es kommt auf die Richtung an. Es kommt so auf sie an, daß heute ein minderer Mann, der reinen Herzens einer Richtung sich ergibt, mehr für das Glück, die Stärke und die Menschlichkeit der Menschheit tut als ein großer, doch höchst isölierter Solipsist in der "allumfassenden Einsamkeit seiner Seele". Er tut mehr. Einfach sachlich leistet er mehr. - Heute, des wichtigsten Beispiel halber, ein organisierter Genosse. Heute! -



Zion

Der Geist kennt nur Verwirklicher seiner Befehle. Je nach der Art der Trübung, der Einschiebung, des minderen Mittlertums zwischen Geist und Verwiklichung gibt es Nationen. Und nun sucht der Zionist vom Absoluten, vom Geist, einen Spezialgeist, einen Judengeist abzusondern. Er sucht noch eine weitere Trübung, Einschiebung bewußt zu konstruieren, über die schon vorhandenen hinaus. Eine Nation, die in der Luft schwebt. Er will eine Gemeinsamkeit fundamentaler Art für die Heutigen finden, die nicht fundamentaler Art ist. Die Tatsache Judentum, die Tatsache irgendeiner Gemeinsamkeit der Juden - durch das Faktum: Jude sein - liegt nicht in der Natur, sondern nur in ihrer Isolation. Woher aber, wird man mich fragen, eben diese Isolation? Aus dem Kult, antworte ich. Wer Sabbat macht und beschneiden läßt, ist isoliert.

Es ist auch nur ein Kult, gar keine wirkliche Religion mehr. Eine Religion (man wird finden, der zionistische Theoretiker scheut selbst hier die Klarheit und tritt für eine vage Religiosität ein), die in jeder Einzelheit nichts mit ihrer realen Umgebung zu tun hat, ist erstens keine mehr und dann isoliert sie ihre Vertreter. Der Zionist muß beispielsweise gewöhnlich die Juden gegen den Vorwurf verteidigen, sie ständen dem Ackerbau fern. Er kann anführen, daß die meisten und stärksten Bilder des Alten Testaments dem Ackerbau entnommen sind. Schön. Aber, wie sollen etwa heute Herr Ballin oder Herr Rathenau oder der Zigarettenarbeiter Moritz Itzig zu einer Religion stehen, deren wirksamste Bilder aus (noch dazu veralteten) Methoden des Säens und Pflügens genommen sind! Dazu: jedes der kosmischen Bilder dieser Religion ist einem Weltbild entnommen, das nicht etwa nur poetisch symbolischer Art ist, sondern einer ganz historisch eindeutig bestimmten, physikalischen und astronomischen Naturanschauung entspricht. Dieses Weltbild war vor fünftausend Jahren regierende Selbstverständlichkeit. Heute ist ein anderes regierende Selbstverständlichkeit. Aber das tangiert eben nur die kultische Gemeinschaft. Es tangiert nicht im geringsten die religiöse Idee. Nicht eine gläubig brüderliche Menschengemeinschaft.

Also Aufklärung?

Ja. Lieber flachste Aufklärung, als Verwirrung aus Tiefe. Nebenbei: Nie erhoben sich ätzendere Aufklärer als die Propheten des Alten Bundes in ihrem Kreis. Ihre Feinde, heute angeschaut, wären die empfindungsvoll Erlebnisstolzen, Besitzenden; die auf ihre Geistgeheimnisse eitlen Hihi-Wesen; die Mystiker der Bibliotheken; und die Austeiler leerer Versprechen aus Tiefe.

Und Gott?

Oh, er ist für uns mächtiger da, als für Sie einzelne, die ihn mystisch immer erst wieder "verwirklichen" müssen. Für uns ist er Wirklichkeit, und ihm suchen wir nur die Wirklichkeit unserer Erdkugel zu nähern. Denn für ihn sind wir nicht Orientalen oder Abendländer - für ihn sind wir Gemeinschaftsmenschen. Menschen der Menschheit. Es gibt nichts, das wesentlicher wäre! Heute bennant: Sozialisten!

Immer noch sind wir heimlich versucht, nach Blutunterschieden zu forschen. Das letzte Jahrhundert hat unsere Nüstern so witternd gemacht, unsern Spürsinn für Subkutanes so geschärft, daß uns heute jene Annahme beinahe als zu simpel erscheint: Die Juden unterschieden sich von den Nichtjuden durch den Kult. Doch es ist so. Und dieser Unterschied, den wir in religionsfremden Gegenden fast nicht mehr zu sehen bekommen, ist mindestens ebenso geheimnisvoll wie Blutverschiedenheit, Blutgemeinschaft oder die grobe Naturalmystik von der Vererbung. (Und man muß die Kraft des Geistes kennen, um zu wissen, daß er nicht nur Judennasen formen kann, sondern bei amerikanischen Einwanderern sogar Amerikanerkinne. Ah, und war in Wirklichkeit etwa die Sprache je eine naturgegebene Grenze? Wie, wissen wir nicht mehr, um weniges nur zu nennen!: von der Durchdringung eines romfremden Europa mit dem Lateinischen, von der semitischen Sprache nichtsemitischer Stämme Abessiniens? Wer ist in Wahrheit der Bildner des Menschen? Allein der Geist!) Aber auch nicht, wie Sombart meint, die Glaubensgrundlagen des Alten Testaments haben die Praxis des modernen Judentums geformt - denn gerade für diese Hypothese kommt der Moment, wo Jude, Calvinist und Quäker praktisch ununterscheidbar werden!

Nein, ein ebenso einfacher wie furchtbarer Vorgang hat dem Judentum zu seiner Sondergemeinschaft verholfen: Sein Kult, im alten Orient zu Hause, stimmt in allem Wesentlichen nicht mehr zu den Tatsachen des neuen Abendlandes; also werden die Tatsachen des neuzeitlichen Landes dem alten Kult angepaßt! Das tut der Talmudkommentar; dieses unglaubliche, jahrhundertlange, aufreibende Bemühen, angebliche Gesetze zu finden. Gesetze, nach denen Äußerlichstes verschiedenster Art in nie gewesener Übereinstimmung erblickt werden könne.

Durch Jahrhunderte hindurch stand die jüdische Gemeinde vor jeder neuen Tatsache absolut fassungslos, ungläubig, skeptisch - nur den Kult hat sie nie angezweifelt. Während gerade der Kult der anderen Glaubensgemeinschaften ( - nicht vielleicht der Galuben - ) im engsten geographischen Zusammenhang mit der jeweiligen aktuellen Umwelt steht! Aber diese gewaltsame Selbstisolation der Juden, ungläubig fort von der Welt ihres Lebens, und hin zu der Zeichensprache einer Welt, die schon lange nicht mehr da war, die in ihren Zeichen bereits nichts lebendig einflußkräftig Überzeugendes mehr bedeuten konnte; diese arbeitende Schulung im Nichtsehenwollen, dieses Gespentischmachen der wirklichen Welt: das ist natürlich eine tausendmal mehr mystische Erscheinung als alle neuzionistischen Mystiken. - Sicherlich gibt es heute noch Liebhaber von Postkutschen - aus Romanlektüre. Nun aber eine alte Postkutsche auf ein modernes Automobilchassis zu setzen; voran einen Chauffer im Postillonkleid, der, weil er nicht trompeten kann, statt des Posthorns ein signalblasendes Grammophon in Betrieb setzt: das ist eine Magic-City-Idee! Aber der Zionismus ist eine Magic-City-Idee.

Denn: Menschen haben endlich gelernt, ihre Welt zu sehen, zu unterscheiden, zu begreifen - im Gegensatz zu ihren Vorfahren. Und diese Menschen will man an einen Ort führen, der zwar ihren Vorfahren längst nicht mehr wirklich war, unter dessen Illusion sie aber ihre nächste Lebenswelt verfehlten! Was sollen diese heutigen Menschen dort, an jenem Ort, dessen Realität doch schon zu biblischen Zeiten nicht mit seinem auf den Himmel bezogenen Plan übereinstimmen konnte? Sollen sie vielleicht dorthin ihre neue, wirkliche Lebenswelt importieren? Sollen sie vielleicht inmitten orientalischer Realität nunmehr einen romantischen Kult des fernen Europas pflegen - weil bisher ihr Unglück darin bestand, ihre europäische Realität über ältestem Orientkult zu vergessen!

Dieses neue Zion wäre noch viel schlimmer als jene Postkutsche.

Es geht mit dem Zionismus wie mit der Alchimie. Jahrhundertelang suchen Laboranten nach symbolischen Rezepten, aus Blei Gold zu machen. Und der Sinn der Rezepte war gar nicht die Erlangung des wirklichen Goldmetalles, sondern eine Anleitung zur sittlichen Wiedergeburt des Einzelmenschen. Sollte so nicht der Fall des Zionismus liegen? Er sagt "Zion" und meint Reinheit des Einzelnen; er verheißt Palästina und meint das Paradies auf Erden: Die Besitzlosigkeit, die Unbedingtheit des Menschen vor Gott. (Im Gegensatz zum Talmudisten, der, in seine Umwelt verstrickt, sie künstlich regieren will.) Aber die plumpen Tatzen der zionistischen Sudelköche aller Konfessionen wollen durchaus den Juden hin ins geographische Palästina zerren!

"Juden". Um wen handelt es sich da eigentlich?

Nicht um Juden als Rasse - die jüdische Rassenreinheit wird heute selbst von den Rassentheoretikern nicht mehr behauptet.

Nicht um Juden als Nation - denn das strebt ja der Vulgärzionismus erst an und behauptet dieTatsache nur rückläufig.

Sondern, unabhängigselbst von einer Untersuchung des historischen "Warum?" (was nur wieder schwankende und je nach wissenschaftlichen Zeitstimmungen wechselnde Begründungsversuche ergibt), unabhängig selbst von der historischen Linie muß man für die Wahrheit feststellen: Es gibt heute deutlich und greifbar zwei jüdische Riesenkontinente in der Welt. Die europäischen Juden auf der einen Seite, die Ostjuden auf der andern. (Dieser Unterschied reicht bis nach Amerika.) Die klare Betrachtung der menschlichen Situation beider Teile ergibt die nackte Tatsache: Die europäischen Juden sind eine Gruppe von gehaßten Menschen. Die Ostjuden sind eine Gruppe von hilflosen Menschen.

Haß it etwas, worüber man einmal zur Verständigung kommen kann. Dagegen Hilflosigkeit ist eine schlimme Krankheit.

Der Zionismus macht den Kranken stolz auf seine Krankheit. Und so schön es ist, jemandem zuzureden, gerade aus seinem Mankos und negativen Seiten und allen Dingen, die man vermißt, sich ein produktives Lebenselement zu schaffen - so sehr ist doch nötig, daß der Ratgeber deutlich angeben kann, welchem Sinne diese Produktivität diene. Dagegen raten zionistische Bewegungen den Ostjuden die heilige Bewahrung ihrer Hilflosigkeit an, zum Zwecke der Produktion derselben Hilflosigkeit!

Die erste Pflicht des Menschen, die einzige, ist, den Nebenmenschen auf das Niveau der eigenen Verantwortung zu bringen. Es war einmal eine sehr beliebte Tätigkeit von Damen der Gesellschaft, Strümpfe für die nackten Negerkinder in Afrika zu stricken. Das ist, aus geographischen Gründen, komisch; es war aber, im Letzten, richtig, neu, und verantwortungsvoll gedacht. So sollte es heute guter Ton sein, vornehm, ja - wenn es sein muß - unausweichlich elegant, die Hilflosigkeit der Ostjuden zu heilen. Nicht durch Judenschulen hilft man ihnen, sondern durch Schulen; nicht durch Betonung ihrer besonderen Hilflosigkeit, sondern indem man sie zur Selbsthilfe anstachelt. Wie? Die Japaner tragen Gehröcke oder feldgraue Uniformen; in China sind die Zöpfe verschwunden; und es sollte irgendeinen Grund geben für Kaftans, Schläfenlöckchen und unterscheidende Sitten aus Troglodytenzeit - selbst wenn sie nur symbolisch gemeint sind. Und gerade dann! Man darf sich nicht durch die, meist im verächtlichen Sinne gebrauchte Behauptung einer angeblichen "Assimilation" vieler Juden täuschen lassen. Im Kampf gegen die Assimilation lassen sich die Zionisten gern vom Typus des antisemitisch-nationalistischen Korpsstudenten helfen. Das macht diesen Kampf verdächtig. Dieser Kampf wird geführt gegen die letzten gesitigen Lebensmöglichkeiten des Abhubes der Ostjuden, das heißt gegen die ärmsten, verlassensten, unwissendsten, jämmerlichsten Menschen. Satte kämpfen da gegen wahrhaft Unglückliche, einfach Unglückliche, ohne jeden seelischen Beigeschmack Unglückliche. Solche, für die auch die leiseste Änderung ihrer äußeren Lage schon das Glück, das Wunder, das Zion bedeutet. Und für die Zion vor allem Änderung ihrer Lage bedeutet!

Aber der Kampf gegen Assimilierung ist zudem ein Kampf gegen Nichtvorhandenes. Assimilierung? Aber woher käme dann das erbitterte Ringen um haltbare Staatstheorien, wenn es bis heute gelungen wäre, auch nur die Assimilierung des Deutschen an Deutschland, des Franzosen an Frankreich, festzustellen? Oder haben sich bis heute etwa die Europäer an Europa, die Menschen der Menschheit assimiliert?

Lieber gehaßt sein, als hilflos. Hilflosigkeit, selbst im "eigenen Haus", läßt das Haus zusammenfallen. Aber Haß hat in dem Augenblick seine Rolle ausgespielt, wo es gilt, gemeinsam mit seinen Nebenmenschen für die allerdrängendsten, allernächsten, primitivsten Aufgaben der Erde zu arbeiten.

Die nächste, primitivste Aufgabe des Menschen auf der Erdkugel heißt Friedensgemeinschaft; geistige, das ist: unzufällige, absolute, unumstößliche, wirkliche! Was tut hierzu der Zionismus? Nichts!

Der polemische Rettungsversuch von Neozionisten (am deutlichsten Max Brod) behauptet, gerade dies sei das Ziel des Zionismus, eine Zusammenfassung aller geistigen Kräfte, um der Welt Heiligung in Realität zu bringen.

Warum, fragt man, nicht der direkte Weg zur Menschheit, warum nicht unmittelbares Bekenntnis, hindernisloses Handhinreichen den Brüdern? Warum der versickernde Umweg über das Ghetto eines neuen Nationalismus?

Antwort des Zionisten: Der Zionismus sei ein "technischer Kunstgriff", mit dessen Hilfe man zur Menschheit gelange.

Ein Kunstgriff? Wir halten den Atem an. Toller Beschönigungsversuch, der gerade die letzte morsche Gezwungenheit dieser "Bewegung" aus Reservat-Politik, dieser Menschenfreundschaft aus unsäglicher Menschenferne enthüllt.

Ein Kunstgriff gegen Menschen! Wir hatten ihrer zu wenig? Wir haben noch nicht genug an dieser Jubiläumszeit für Kunstgriffe der Industrien, beeinflußten Zeitungshäuser, vergangenen Regierungen! Wie? Wir wissen immer noch nicht, daß jeder Kunstgriff die Menschheit vorschützt und im ersten Entscheidungsmoment sofort Gewaltgriff wird!

Ein Kunstgriff heute noch, da eben in der wüstesten Zeit der Weltgeschichte liebende Zartheit über Grenzen und Heere hinweg die Menschen der Zukunft sich finden ließ - heute noch Verfolgte und Geschmähte, diese Geistkameraden des Erdballs, diese Mutigen aus Herzensreinheit.

Ich rufe auf, ich rufe auf zur Bruderschaft und Hilfe, was noch übrig ist und lebt, ich rufe die letzten Genossen des Herzens auf zum Schutze gegen Kunstgriffe!

Ah, wir geben die Blutkörperchen unserer Nervenzellen verschwendend hin, wir Brüder im Geiste, um die blutig amorphe Erde endlich zu formen nach der Unbedingtheit im göttlichen Plan vom Gemeinschaftsleben. Und da, mit freundlicher Naivität, raten gar bessere Menschen der Welt noch Nebenwege, Umwege, Kunstgriffe an!

Wer ein Ziel erreichen will, erreicht es, nach dem tiefsten ethischen Gesetz der Welt, nur durch ein Mittel, das mit diesem Ziel sich deckt. Vielleicht durch ein höherstehendes, reineres Mittel noch; aber nie durch ein geringeres. Gilt es, ein reines Ziel zu erreichen, so gilt auch nur ein reines Mittel.

Und nie gilt der Kunstgriff.

Kein Kunstgriff nimmt uns je unsere höchste Aufgabe ab: das Leben zu bewältigen für die Andern.

Brüder im Geiste, selbst müssen wir zupacken, denn die Lehrer und Berater ließen uns im Stich. Nicht einmal äußerlichste Haltung wird mehr gewahrt. In dieser Zeit, da die einstigen Brennpunkte geistiger Völkergemeinschaft, die Hochschulen (Höhe und Universitas schon seit langem nur noch im Titel!) geirig danach sind, die geistesfernsten Diener der Gewalt zu ihren Ehrenweisen zu ernennen: In dieser Zeit müssen wenigstens wir Geistmenschen von uns die freie, göttliche absolute - die kunstgrifflose! - Kameradschaft mit dem Menschenball der Erde fordern.

Meine Brüder, die Zeit hat uns an die Mauer gestellt, um uns wälzen sich Angst und Krampf, zehntausend Gewehrläufe der Bedrohung starren vor uns. Was soll da noch falsche Scham, was noch Maskenzug mit Orient, Zion, Judenschaft! Den Mund auf! Keine Sekunde mehr. Wir können nur noch schreien:

Es lebe die Menschheit!



Aktualismus

Alle künftige Rede, Aussprache, Literatur, Mitteilung fürs Leben wird nicht mehr psychologisch sein, sie wird metaphysisch sein. Übersetzt ins Vokabular unserer Realität, der Realität von Wesen der großen Menschengemeinschaft, heißt das: sie wird ethisch sein. Unsere Ohren, die trotz der Mordjahre in eine neue Zeit hinein horchen, werden anderes nicht mehr zulassen.

Der Weg, den wir in die Ewigkeit nehmen, muß durch die Jetzigkeit gehen. Der Leib des Menschen ist nur einmalig, aber diese Einmaligkeit ist sein höchster Wert. Je tiefer und vollkommener wir einmalig sind, um so gemeinsamer sind wir allen. Je eindeutiger wir uns entscheiden, um so unendlicher ist unser Handlungsbereich. Nur wenn wir unser Leben, das eines menschlichen Wesens, ganz auf der Erde durchsetzen, werden wir auch geistiges Wesen sein. Der Einsiedler und der (sogenannte) Asket sind Spezialitäten. Sie betrachten das Geistige als Sonderexistenz, wie Kinder das Licht durch ein Kaleidoskop anschauen; sie sind Verwirrer, denn sie lenken das menschliche Denken vom Geist ab, und der Betrachtung eines Betrachters zu; zuletzt, sie verwirklichen nicht, sondern träumen nur die Verwirklichung. Jede Lehre, die allein auf die bloße „Vermeidung des Sündhaften“ ausgeht – kann sehr groß sein, sie ist aber nur eine Lehre der schönen Haltung, des Symbolischen und des Niveaus. Nichts ist ruchloser als Exklusivität, und nichts grausamer als Isolation. Nur die Lehre, und einzig sie, hat Sinn für den Menschen, deren Wort uns ein Zeichen auf den Weg setzt gegen unsere Frage: Was sollen wir tun?

Was wir nicht tun sollen, wissen wir heute mehr als je. Aber nie kann eine Antwort auf diese Frage heißen: Abwarten! – Sie muß, im Gegenteil, auf bestimmteste Einzelheit gebracht, heißen: Handeln! Und: Selbst Handeln! Und: Gemeinsam handeln! Zu fordern ist noch mehr; die Bestimmung: Wann handeln, wie handeln, wohin handeln.

Wenn wir handeln, begehen wir oft Unrecht. Es ist falsch, darum vom Handeln abzulassen. Unsere Vereinzelung, die des Nichthandelnden, begeht viel größeres Unrecht. Jeder weiß das aus seinem praktischen Leben. Nur das Schlimmste sei erwähnt: der Vereinzelte will nicht „gestört“ werden. Es ist uns aber gegeben, oft Unrecht zu begehen, wenn es aus Güte geschieht und für die Gerechtigkeit. Ohne Güte und ohne das Ziel der Gerechtigkeit gibt es kein Handeln: was man, fälschlich, so nennt, ist nur die automatische, wieder in sich zurückschnappende Bewegung eines angestoßenen Uhrwerkes. Wirkliches Handeln ist aber stets: Handeln für den Geist. Und was ist „Vermeiden des Sündhaften“ anderes als Schmuck; Dekoration des Ethischen; Kunstgewerblichkeit des Gemeinschaftslebens! Es ist weder seelische noch geistige Gesinnung, das Böse aus dem Leben (- um einen für die Besitzidee bezeichnenden Malerausdruck zu gebrauchen -) „auszusparen“. Es ist nur bequem. Es ist – erbärmlich schauerlichster aller Zustände – zufriedenstellend! Kennen wir nicht jene hohen, hellen und jammerhaft öden Laboratorien, Bierhäuser, Kaufpaläste, in denen das Störende, Unangenehme und sogenannte Unkünstlerische ausgespart und vermieden wurde? Sie sind die Kronzeugen der Monumentalität aus Menschenangst. So führt auch die Vermeidung des Sündhaften zu einer leerhallenden Architektonik des Lebens. Und es bleibt im erhabensten Falle, daß der Betrachter, welcher menschenflüchtend im chaotisch echowerfenden Mittelsaal seines sündlosen Monumentalhauses sitzt, sich von Sünde frei glaubt. Während draußen rings um die Unschuldsburg das Böse an die Mauern schäumt.

Nicht die Vermeidung des Bösen gilt es, sondern Widerstand gegen das Böse. Aber der Widerstand gegen das Böse ist nur ein geringer Kreisausschnitt des Lebens, und schon längst einbegriffen im großen Umkreis des Handelns. Wer handelt, für den Geist handelt, der lebt auch zugleich stets im Widerstand gegen das Böse.

Entrückte und Ekstatiker preisen die Zeitlosigkeit. Mißtraut ihnen! Denn der Zeitlose weiß nur vom Ich, nicht mehr vom Anderen. Er weiß nicht von Gut und Böse, nicht von Recht und Unrecht. Er weiß nicht von Werten. Aber die Werte sind göttliche Stundenzeiger für den Menschen. Der Zeitlose will uns glauben machen, er sei in Gott eingegangen. Aber das kann man nicht. Und er belügt sich und uns um einer Ausflucht willen. Man kann nur, in der größten Stunde des Lebens, zum eigenen Bewußtsein von der Existenz Gottes kommen. Aber diese Stunde gibt unverlierbar die göttlichen Wegweiser, die Werte, in die Hand des Menschen. Dagegen die Zeitlosigkeit der Mystiker ist nur eine Entschuldigung für die Beschäftigung mit der rein psychologischen Verfassung des Menschen, seiner elementenmäßigen. Die eitle, unausgefüllte, alles gleichsetzende – entwertende – Widerstandslosigkeit des Psychologischen gegenüber der metaphysischen Existenz des Menschen wird immer in Zeiten der Krise sichtbar. Vielmehr diese Sichtbarkeit ist die Krise.

Heilig sei uns die Zeit. Die erhabenste Forderung vor uns selbst heißt: Jetzt! Entzeitlichung heißt Aufschub. Aller Aufschub entmenscht uns. Nicht Vertröstung tut heute Not, sondern Tröstung. Nur wenn wir geben, aktiv lieben aus dem Geiste, wenn wir handeln: können wir trösten. Nichts bleibt uns übrig, als in die Welt einzugreifen. Der Aufschub, die leeren Versprechungen, brennen der Menschheit die tiefsten Wunden. Nur die ewige und stets von neuem wundertragende Entscheidung des Augenblicks, der Mut zum unbedingten „Gleich Jetzt!“ kann uns heilen. Nicht einmal begreifen werden wir die Ewigkeit, noch weniger in ihr leben, ohne das Gegenmaß des Jetzt. Aber gerade das äußerste, beschränkteste, unmittelbarste und glühendste Jetzt ist das Sprungbrett, das uns im Sturmschwung in die Ewigkeit trägt, und selbst unter dem Anprall unserer Füße, in Trümmer fliegt.

Der Bruder

"Ih seid Menschen", "Vous ȇtes des hommes" heißt das Gedichtbuch. Ein Franzose, P.-J.Jouve, stößt den lauten Schrei des Menschen aus. Eine Widmung drin, für uns: "Aux frères ennemis." Es gibt nichts Erschütternderes. Ebenso ungeheuer klar, so riesig weit über die Mitwelt gebogen, so aufstachelnd proklamatorisch sind die Gedichte. Paris 1915, Verlag der "Nouvelle Revue Française". Ehre diesem Verlag. Obwohl fast gewiß ist, daß Jouve und sein Verlag während des Krieges für diese Zeilen hier die Beschimpfungen der Routiniers des Hasses erleiden werden, soll dennoch nicht geschwiegen sein! Einmal geht dieser Krieg zu Ende. Es ist Zeit, daß wir endlich wissen, wer auf seiner Fahne das Bild des Menschen trägt. Denen Dank, die unsere göttliche Geburt nicht vergaßen.

Wo waren wir! Welches Recht hatte denn dieses halbe Jahrhundert zum Leben! Denn länger als fünfzig Jahre sind Leser und Dichter gutgelaunte Privatwesen, subtile Amüseure des Ich. Höhepunkt der Entgöttlichung des Menschen, der Geographielosigkeit des Bewußtseins, der Entirdischung der Erde: das verantwortungslos eingekapselte Gestaltertum. In Frankereich, in Deutschland, die feierlichen Kreise, in denen Symbole auf Maggiwürfelkonzentration gepreßt werden; immer noch die wertvollsten Teilnehmer der Zeit. Aber welch einer Zeit! Ihre Dichter Beschauer des Historischen; und nur um des Schauens willen, sogar ahnungslos(!) Bejaher von Organisationen; schon formal die gestrengen Musikmeister heutiger Armeen. Eine Welt ohne Entfalter, ohne Mensch, ohne Schöpfer.

Als hätte nie die Erde sich geöffnet! Aber erscholl nicht aus dem Mund der Erde die Stimme des Menschen? Vor einem halben Jahrhundert auf amerikanischem Boden zum ersten Male des Dichters Walt Whitman ungeheure Liebesstimme für den Menschen.

Jouves Gedichte sind nicht zum Beschauen da. Sie sind da, um den schwachen Menschen zu ändern, zu stärken, zu heilen. Seine Verse sind nicht für die Plastik der Museen oder die Seltenheit der Bibliophilie gemacht. Reimlos, alexandrinerfern; Zeilen sind Schreie in riesenhafte Volksversammlungen; Rhythmen stoßen hell in uns hinein, unsre Knochen zu stärken.

Der Mut dieses Mannes, seine Unabhängigkeit, seine Liebe für die Welt! Der Mensch ist gebeugt, Jouve richtet ihn auf. Der Krieg geht ja über die ganze Erde. (Er schlägt mit dem Meer bis nach Patagonien.) Drum gilt es das Leben der Menschen miteinander auf der ganzen Erde. Politik. Der politische Dichter kommt herauf (wieder, seit Whitman). Der Krieg hat das nicht gemacht, er hat es nur verdeutlicht. Einige von uns, und drum mißachtet, fordern die politische Dichtung seit Jahren. Die Forderung wird immer mehr erfüllt. In kurzem sind die andern mißachtet, die uns höhnten: die Beschauer, die Gestalter von längst Gegebenem, die Vermittler von Gefühlen. Mißachtet sind sie als ärmliche Feiglinge, jämmerliche Beruhigte, gottverlassene Beitreiber von Alibis für eine verurteilte Zeit.

Die Welt wird ihren Dichtern danken, den politischen Dichtern. Sind sie wirklich heute noch mißverstanden? Weiß man wirklich nicht, daß ihre Themen nur Mittel sind? Die angebliche Satire bei Sternheim, dem ersten politischen Dramatiker der heutigen Zeit, in Wahrheit: hydraulische Herauspressung der Zeitseele unter dem Augenwinkel "Hundert Jahre später" (keine Psychologie, kein Lyrismus; es geht um Ideen). - Die Musik in den zehn Bänden von Romain Rollands "Jean-Christophe" (Einen bloßen "Roman" machte jeder kleine Pariser Reporter geschickter. "Jean-Christophe" ist aber kein Roman, sondern eine risenhafte Proklamation für unbedingtes Menschentum!) Doch es gibt schon einen immanenten Dank der Welt: vor dem politischen Dichter enthüllt sich alles Reden von "Wortkunst" als Schwindel. Der politische Dichter ist in allen Sprachen der Welt übersetzbar. Er braucht nicht "übertragen", umgefühlt, umgedacht, umgedeutet zu werden. Noch im eisenbahnfernsten, grenzseitigsten Ausdruck ist er ganz da, Gewalt des ersten Tages; schaffend.

"Pour l'Europe" ruft Jouve auf. Uns für Europa:

"Ein Sang für Europa!

Singen für Europa, hoffen für Europa!

Ich bin nur geringfügig Zelle; irgendeiner Europas;

Aber wer singt ihn - singt ihn denn die Kehle eines Gewaltigen? -

Wer will ihn singen, tät es nicht ich, den stummen Schmerz in allen anderen?

Wer will, tät es nicht ich, auffangen

Die Seele, herrschmächtige oder erbärmliche Seele der Lebenden und der Toten?"

Keine Beschreibung von Zuständen. Unsere Forderungen an einen solchen Dichter werden außerordentlich, nach der Höhe seines Willens. Mit ihm kämpfen wir schon um die Richtigkeit seines Ziels (dagegen mit einem bloßen Lyrikles höchstens um die Sicherheit seines Ausdrucks). Vom politischen Dichter wissen wir: das Ziel ist nicht die Menschen zu rühren, sondern sie zu führen. Ihn fragen wir: "Was sollen wir also tun?" "Que faut-il faire?" heißt das Schlußgedicht des Buches. Jouve ist von wildester Gläubigkeit für die Völker. Aber ihn haben alle Säuren des Schreckens gebrannt, er ist ein Wissender. Der feindliche Bruder, dem die Widmung gilt - ist auch der Skeptiker, der in Verheißungen mit der Resignation angeblich ewiger Gesetze der Erfahrung einbricht. Nur ungeheuerlicher Enthusiasmus kann hier sagen.

"Tu n'auras pas la justice, et tu n'auras pas l'éternité", hört er. Aber er darauf, ganz still, sein letztes, schönstes Wort, halb schon gemurmelt über Vergangenheiten, und ganz sicher: "... Tais-toi, tais-toi, va, allons ensemble!" Wie stark: ein Wort der Gemeinsamkeit schließt das Buch.

Aber zu uns! Dichter Jouve, Politiker, Mensch, mein Bruder,

Wenn wir miteinander sprächen, gäb es namenlos Mißverständnisse!

Ich spräche gegen die Kunst (und für Sie!)

Aber Sie würden nur aus Höflichkeit das Wort zurückhalten:

Ja, weil Ihr Deutzschen die Kathedralen zerstört.

Oder Sie, Sie suchen einen mächtigen Refrain, der die Massen auf den Straßen vorwärts teribt, und Sie finden ihn.

Aber ich würde Ihr Wort nur für eine schöne Phrase halten,

Denn bei uns sind die schönen Worte für Dinge da, die es schon gibt.

Sie würden glauben, ich sei teilnahmslos oder brutal.

Ich würde glauben, Sie seien ein Hohlkopf.

Wir würden uns entzweien und einen neuen Krieg brauchen, um wieder Brüder zu werden!

Nein.

Es kommt nicht auf Mißverständnisse an.

Es kommt darauf an, daß wir nicht aneinander zweifeln.

Wir wissen, dies ist der Freund. Seien wir Partei füreinander:

Seien wir Mensch!

Jeder von uns treibt grauenhaften Irrtum.

Jeder Irrtum, den wir nicht sahen, hat Menschen getötet.

Dichter, Bruder, Völkermensch!

Ich weiß, daß es wahnsinnige Umwege gibt.

Ja, wir werden uns lieben, einander unbekannt (wir lieben die Bilder, die wir uns voneinander machen!)

Aber träfen wir einander in Wahrheit und sagte ich: Auch Sie glauben noch zu oft Ihren Kriegszeitungen, wie ich den meinigen. Aber ich weiß, daß wir beide es wohl irgendwie nicht anders können,

Dann würden Sie mir eine gespitzte Antwort geben. Und ich würde Ihnen das nicht verzeihen.

Darum: es tut not, wir lassen es nicht so weit kommen.

Jeder von uns beiden ist ganz gewiß und denkt doch, er sei der einzig Sichere.

Aber ist es nicht viel wichtiger, daß wir beide gemeinsam wollen?

Das Sein ist wichtiger als die Beschäftigung mit dem Sein.

Gemeinsam wollen!

Eines Tages ist der Krieg zu Ende.